Gastbeitrag: E-mail aus Istanbul zu den aktuellen Ereignissen

Heute habe ich einen Gastschreiber gefunden, der davon noch nichts wusste, als er letzte Nacht folgende E-mail an Freunde und Kollegen schrieb. Dank seinem Einverständnis darf ich seine E-mail hier veröffentlichen. B. ist mein lieber Kollege, der seit acht Jahren in Istanbul lebt und arbeitet. Gestern Morgen war er als “Tourist” auf dem Taksimplatz, als dieser geräumt wurde.

Foto von gestern gegen 17 Uhr, Rauch steigt auf vom Taksimplatz

Mittwoch, 12. Juni 2013 um 0:58 Uhr
Liebe Freunde,

uns geht es gut. Wir sind sehr aufgeregt.

Bis auf das momentane Zentrum der Protestbewegung in Istanbul, das gleichzeitig ja auch Verkehrszentrum ist, läuft das Leben hier scheinbar normal. Soeben ist die Stadtautobahn TEM in einem Bereich gesperrt, weil sich Demonstranten zum Taksim begeben. Oft waren in letzter Zeit bestimmte öffentliche Verkehrsmittel plötzlich außer Betrieb.

Über die Ereignisse hier in Istanbul und in der Türkei wird größtenteils auch in Deutschland berichtet. Übrigens wurden heute im Laufe des Tages, während nach 9 Tagen Ruhe die Polizeiaktion auf dem Taksim begann, in Istanbul 78 Rechtsanwälte verhaftet.

Die folgenden Zeilen geben weitere Informationen, die wir bekommen haben und ein wenig von unserem Bild der Ereignisse wider.

Über die Reden des Autokraten Erdogan hat sicher jeder etwas gehört bzw. gelesen.

Ein anderes, hier Lügenschwein – pardon aber solche Worte gebrauche ich sonst bestimmt nicht – ist der Gouverneur Istanbuls, der für die Sicherheit in der Stadt verantwortlich ist, hat sich 12 Tage lang zu den Ereignissen nicht gemeldet. Wie die Polizei in seinem Namen vorgegangen ist, konnte jeder verfolgen, der das wollte. Die (von der Regierung kontrollierten) Sender, das sind scheinbar fast alle, haben bis zum Sonntag (02.06.) nicht oder kaum berichtet.

Folgende Chronologie der letzten beiden Tage lässt meinen Ausdruck nicht derb genug erscheinen:

Der Gouverneur der Stadt Istanbul, Mutlu, der zuvor wegen der exzessiven Polizeigewalt in Kritik gekommen wurde, tweetete am Sonntagmorgen (09.06.) überraschend positiv gegenüber den meist jungen Demonstranten: “Ich habe gehört, ihr jungen Menschen, dass ihr einen friedlichen Morgen im Gezi-Park mit Vogelgesängen, dem Summen von Bienen und dem Geruch von Linden verbringt. Ich würde gerne bei euch sein.” Er sei früh aufgewacht und habe an die Menschen gedacht, die im Park und nicht in ihren Betten geschlafen haben, sagte er und versprach, dass die Polizei nicht mehr gegen die Demonstranten vorgehen wird.

Heute (11.06.) wurde etwa ab 7.30 der neuerliche Polizeieinsatz auf dem Taksim begonnen und Folgendes verbreitet:

Istanbuls Gouverneur Mutlu rechtfertigte die Erstürmung des Taksim-Platzes und gab regierungskritischen Demonstranten die Schuld daran. “Ihr Anblick verärgert die Bevölkerung (…) und besudelt den Ruf des Landes in der Welt”, sagte Mutlu bei einer Pressekonferenz mit Blick auf die Zelte der Protestierenden im Stadtzentrum. Die Verantwortung für die Zusammenstöße im Zuge des Polizeieinsatzes hätten allein gesellschaftliche “Außenseiter” zu tragen.

Mutlu zufolge sollen die Protestierenden auf dem Parkgelände unbehelligt bleiben. Einziges Ziel sei es, auf dem Taksim-Platz “alle Plakate und Schilder zu entfernen”, schrieb der Gouverneur auf Twitter. “Wir werden weder den Gezi-Park und Taksim-Platz noch euch anrühren”, versicherte er.

Nun (11.06., ca. 23.00 Uhr) lässt eben dieser Mutlu (tk. “glücklich”) über Twitter eine Warnung an die Eltern der Demonstranten vom Gezi Park verbreiten, in der es heißt, dass er für die Sicherheit des Lebens ihrer Kinder nicht mehr garantieren könnte. Er wird die Aktion bis zum Ende führen lassen, bis alles frei ist.

Unglaublich!

Ich war heute selbst zwischen 8.30 und 9.30 Uhr auf dem Taksim und habe das “interessante” Geplänkel zwischen Polizei und “Provokateuren” beobachtet. Vollkommen sinnlos, oder eben doch nicht, denn seit heute Morgen sind ALLE türkischen Sender live dabei und berichten über die Provokateure, die Molotof-Kocktails werfen. – Eine tolle Inszenierung. Inzwischen gibt es zumindest Indizien dafür, dass diese Provokateure (mit Polizeifunkgeräten, Polizei-Gasmasken und mit Pistolen ausgerüstet) nur einer Seite zugeordnet werden können.

Trotz der ungeheuren Anspannung (Eine in Reserve vor dem AKM sitzende Hundertschaft der Polizei sprang bei fast jedem Feuerwerksknall nervös auf, ohne Befehl! Ich stand daneben.) blieben die Parkbesetzer in dieser Zeit am Rand des Parks stehen.

Im Laufe des Tages wurden mehrfach Tränengasgranaten in das Camp geworfen/geschossen. Angeblich wurden von der Polizei Zelte angezündet.

Im Camp befinden sich zurzeit u.a. auch 10 Abgeordnete des Parlaments (CHP), die den Protest unterstützen.

Gestern fanden wir im Gezi-Park-Camp unter der Fahne unserer Schule ein Zelt und einige Absolventen. Wir haben uns lange unterhalten. Ich fürchte sehr um die Gesundheit und das Leben dieser und aller anderen Menschen im Camp.

Wir haben uns in den letzten Tagen und teilweise Nächten ein Bild von der Friedfertigkeit aber auch der großen Anspannung dieser Protestgruppen machen können.

Die Staatsgewalt versucht um jeden Preis, eine Rechtfertigung für ein noch brutaleres Vorgehen zu finden bzw. zu konstruieren.

Ich habe, falls noch nicht gelesen, noch einen Brief (vom 08.06.) an meine Freunde und Kollegen in […] angehängt:

Zwischen Feuer und Wasser

Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Freunde,

zurzeit bin ich gedanklich hin und her gerissen zwischen Feuer und Wasser. Rein geographisch stehe ich natürlich dem in der Türkei entflammten Protest näher.

Hier im Land haben zumindest Teile der Bevölkerung entdeckt, ihrer Meinung gemeinsam eine Stimme zu geben und gegen die arrogante diktatorische Politik und Ideologie eines Einzelnen zu protestieren. Schicksalsergebenheit und Obrigkeitshörigkeit sind eben doch nur “Tugenden” eines Klischee-Türken. Es gibt Ausnahmen.

Nach den schweren Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten ist es bezüglich der Polizeigewalt absolut ruhig. Nur die Ruhe vor dem Sturm?

Es ist praktisch in ganz Istanbul kein Polizist zu sehen. – Unglaublich für normale Verhältnisse.

Nachdem wir Familienangehörigen türkischer Freunde Nahrungsmittel und Getränke auf den Taksim-Platz gebracht hatten, saßen wir die ganze Nacht beisammen und haben geredet. Obwohl das aus allen Nähten platzende Camp eher den Anschein eines Open-Air-Festivals macht – hunderte Verkäufer für alle möglichen türkischen Spezitäten, Tee, aber auch Trillerpfeifen, Gasmasken, … und zwischen den Demonstranten, übrigens keineswegs nur Jugendliche, unzählige Besucher und Touristen, Fernsehteams und Übertragungswagen aller Herren Länder – herrscht unter den Aktivisten eine große Anspannung. Die Leute gehen teilweise arbeiten, kehren dann unmittelbar auf den Taksim zurück. Es gibt Patrouillen und Nachtwachen auf dem Platz selbst und an den Barrikaden auf den Zufahrtsstraßen. Insgesamt hocken zig verschiedene Gruppen nebeneinander, von Ultralinken bis Religiösen. Keiner traut dem anderen wirklich, überall werden – zu Recht – Provokateure vermutet. Außerdem ist dieses Camp, vor allem nachts, ein Magnet für die vielen Obdachlosen, Alkoholiker, Lösungsmittelabhängigen, … der Megacity. Aber friedlich, friedlich, friedlich!!!

Es werden meiner Meinung nach wichtige Signale gesetzt. Zu hoffen bleibt, dass die Menschen allgemein ihre Angst überwinden können und sie sich ihrer gesellschaftlichen und politischen Rolle bewusst werden.

Es sind Intellektuelle – Studenten und Schüler, inzwischen aber auch Fußballfans (Die Anhänger der drei wichtigsten, eigentlich bis auf den Tod verfeindeten Fußballmannschaften – Galatasaray, Fenerbahce und Besiktas-, haben sich im Protest zusammengeschlossen und marschieren justament gemeinsam zum Taksim.), Beamte und Rentner.

Zum ersten Mal in meinen acht Jahren ist es nicht nur ein Krawall von ca. einem Tag, wie alljährlich zum 1. Mai. Bleibt zu hoffen, dass alle einen langen Atem haben und noch mehr Solidarität gelebt wird.

Neben all den Ängsten und der Euphorie blieb mir ein Satz in Erinnerung, mit dem einige Jugendliche letzte Nacht ihre Rede beendeten: “Wenn das hier vorbei ist, verlassen wir die Türkei.”

Die formulierten Nahziele sind der Erhalt des Gezi-Parkes und des Atatürk-Kulturzentrums, die Freilassung der während der Proteste Gefangengenommenen und ein allgemeines Demonstrationsrecht auf dem Taksim. (Übrigens ist im momentan noch gültigen Grundgesetz der Republik Türkei die freie Meinungsäußerung jeder Art explizit verankert!).

Auch wenn die Demonstranten immer wieder lautstark den Rücktritt der Regierung und des Ministerpräsidenten T.E. fordern, ist das auch nach demokratischen Regeln kaum möglich. Ich denke, dass ein Großteil der AKP-Wähler (ca. 50%) nach wie vor hinter der Regierung steht.

Momentan hält sich die Exekutive zurück. T.E. weicht aber in seinen Äußerungen keinen Deut zurück. Im Gegenteil gießt er immer noch Öl ins Feuer, geht auf stärkste Konfrontation. Man könnte meinen, dass der Mann größenwahnsinnig, in diesem Sinne krank sei. Mit deutlichen Worten hat er einen Bürgerkrieg angekündigt.

Wo bleibt die orientalische Verschlagenheit? Wie wird man versuchen, sein Gesicht nicht zu verlieren? Wo ist die Polizei? Wird man die Armee einsetzen? Wie werden die Anhänger des Ministerpräsidenten in Aktion gesetzt? Kann es sich ein Staat leisten, das Zentrum seiner Hauptstadt über längere Zeit “Protestlern” zu überlassen?

[…]

Mit herzlichen Grüßen
B.

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3 thoughts on “Gastbeitrag: E-mail aus Istanbul zu den aktuellen Ereignissen”

  1. Toll, wie du hier berichtest! Das ist ein wichtiger Beitrag, Ich wünsche uns allen alle Kraft der Welt, denn möglicherweise sieht es in Deutschland bald ähnlich aus. Alles Liebe, Cali

    1. Danke :-). Na ich hoffe doch nicht, dass es zu solchen Protesten in Deutschland kommt. Ich sehe dort allerdings auch niemanden, der sich als Diktator aufspielen könnte?!

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