Aussehen = Ansehen?!

 Als ich im September herflog, hatte ich zwei Stoffhosen, eine Jeans, zwei Röcke, ein Kleid, zwei Jacken, zwei Pullover, zwei Strickjacken, fünf Shirts und fünf Paar Schuhe im Gepäck. Was natürlich nicht ganz die zwei Koffer und die übergroße Handtasche gefüllt hat, aber daneben brauchte ich auch Dinge wie meinen Wasserkocher, Handtücher, eine Tasse, einen Teller, Besteck, mein Lieblingsbrotmesser, meine zwei Lieblingsfamilienbilder und  meine zwei Lieblingskuscheltiere (ja, ich stehe dazu) …

Auf jeden Fall blieb mein Kleiderschrank lange Zeit ungewöhnlich leer und klang sehr hohl, was ich von meinen bisherigen Kleiderschränken gar nicht gewohnt war. Zur Arbeit blieben mir schließlich noch zur Auswahl die Stoffhosen, das Kleid und die Oberteile, den Kapuzenpullover natürlich ausgeschlossen. Jeansstoff gilt als unpassend, egal ob in Rock- oder Hosenform. Röcke sollten etwa knielang sein. In der Türkei wird auf die Jobkleidung bedeutend mehr Wert gelegt als in Deutschland. Selbst Verkäufer tragen zumeist Stoffhosen und Hemden. Schüler tragen Schuluniformen. Jeans ist für die Handwerker, Handlanger oder eben für den Freizeitlook – obwohl selbst dann relativ wenige Menschen in Jeans herumlaufen.

Nun bin ich aber zu meiner letzten Arbeitsstelle (ich bin Lehrerin) in Deutschland wie viele Kollegen auch mit Jeans und Chucks gegangen. Was nicht heißt, dass ich keine chice Kleidung mag, aber nachdem ich einmal mit Bleistiftrock und Highheels aufgetaucht bin und wie die Sekretärin behandelt wurde, ließ ich es lieber sein.

Hier ist es genau umgedreht: Jeder Job erfordert eine entsprechend chice Repräsentation durch Kleidung. Die Männer laufen meistens komplett im Anzug inklusive Krawatte herum. Die Frauen haben etwas größere Gestaltungsmöglichkeiten. Natürlich habe ich im September und Oktober auch ein paar neue Kleidungsstücke gekauft, aber insgesamt blieb nicht viel zum Kombinieren. Und dabei liebe ich Fashion. Ich liebe es, meine Klamotten ständig neu und anders zusammenzustellen und vor allem täglich etwas anderes zu tragen. Das war übrigens auch mit Jeans und Turnschuhen möglich – es ist einfach eine Frage der Anzahl. Aber mit meinen paar Klamotten hier war das alles nicht machbar. Mir wurde langweilig. Nach über zwei Monaten war ich daher umso glücklicher, als endlich meine Sachen aus dem Zoll kamen (darüber habe ich schon hier berichtet) und ich innerhalb von drei Tagen meinen Kleiderschrank bis zum Rand füllte. In der vergangenen freien Woche trug ich nur Jeanshosen, die hatte ich auch vermisst und sie waren beim Möbelkauf und -aufbau sowie beim Auspacken der Kisten einfach am praktischsten.

Umso mehr Gründe gab es, heute mal ein wenig aufgeschönt mit Blazer, Röckchen und Hackenschühchen loszutrippeln. Auf dem Weg zur Straßenbahn hupten mehr Taxen als sonst und in der Bahn machten die Männer bereitwilliger Platz. Auf Arbeit wurde ich von so ziemlich jedem auf mein Outfit angesprochen und wie fein es aussah, so dass ich mich zwischendurch fragte, wie ich denn vorher wahrgenommen wurde. Zumindest hatte ich das Gefühl, dass es mir durchaus von Seiten der Schüler mehr Respekt verschaffte, was ich nur als positiv werten kann. Zugleich habe ich mich überaus wohl gefüllt, na klar, wie jeder andere bekomme ich gern Komplimente, aber ich wurde auf der Straße und auf Arbeit nicht schief, sondern interessiert angesehen. In der Post wurde ich vorgelassen und der Schalterbeamte entschuldigte sich für die lange Wartezeit. Sogar am Nachmittag in der Bank wurde mir viel freundlicher als sonst erklärt, dass die Kasse für das Bezahlen meiner Stromrechnung leider um vier geschlossen habe – ich war zehn nach vier dort.

Als Schluss ziehe ich daraus, dass ich auch zukünftig den chicen Look für den Job beibehalten werde. Außer vielleicht an den ganz schlimmen Ich-fühle-mich-richtig-mies-Tagen. Und Leute mit Jeans am Morgen in der Bahn? Die können nur Touristen oder ungelernte Arbeiter sein, das ist jawohl klar, oder?

© janavar

(erstmals veröffentlicht am 22. November 2010)

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1 thought on “Aussehen = Ansehen?!”

  1. Das ist auch in Italien so. “Bella presenza” wird in vielen Jobs mit Publikumskontakt vorausgesetzt und sogar in Stellenanzeigen als Einstellungsvoraussetzung angegeben. Ein bisschen oberflächlich, aber dagegen anzugehen, wäre ein Kampf gegen Windmühlenflügel.

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