Eines vorneweg: ob ihr die folgende Geschichte glaubt, müsst ihr selbst entscheiden. Ich bin nicht religiös, ich glaube nicht an Leben nach dem Tod, aber ich glaube an nazar – den bösen Blick, denn …
Es war einmal, es war keinmal – so beginnen türkische Maerchen – es war an einem Sonnabendabend im Februar, als die Welt für kurze Zeit perfekt war. Ich war unterwegs in Istanbul, der perfekte Mann feierte seinen Geburtstag und hatte mich an seiner Seite. Auf dem Weg zum Restaurant stellte er etwas genervt fest, dass viele Leute auf der Istıklal mich ansahen, Maenner und Frauen gleichermassen mir Blicke zuwarfen. Erst als er mich darauf hingewiesen hatte, achtete ich darauf und musste ihm Recht geben. Ich verstand nur nicht, warum – ich an deren Stelle haette nur ihn angesehen. Die Feier verlief super.
Nach diesem Abend ging alles schief. Glück wurde Traenen, Spass Krieg, Aufmerksamkeit Respektlosigkeit, Stolz Kraenkung. Auch anderes zerbrach: in den ersten drei Tagen beispielsweise gingen sowohl mein Föhn als auch meine Bettlampenglühbirne kaputt.
Zwei Monate spaeter fuhr ich mit meinem besten Freund abends zum Flughafen, als er überrascht und unverstaendlich bemerkte, dass mir Frauen giftige Blicke zuwarfen. Warum, habe ich bisher nicht verstanden.
In den letzten Monaten ist Vieles kaputt gegangen, zuletzt habe ich in Daenemark den Schlüssel der Ferienwohnung verloren (ich war nüchtern, weiss, wo ich ihn zum Schluss hinlegte, aber niemals wiederfand), stieg in die deutsche Dusche meiner besten Freundin und genau in dem Moment gab der Boiler auf und dann kam ich nach fünf einhalb Wochen zurück nach Istanbul, wo mein riesiger Badspiegel von der Wand gefallen und in tausend Scherben zersplittert war. Die Frau des Hausmeisters erklaerte mir, dass mein boncuk – ein blaues Glasauge, das ich vor der Wohnungstür aufgehangen hatte und welches vor nazar schützen soll, ebenfalls zerbrochen war. Obwohl ich beides gern den jüngsten Erdbeben zuschreiben würde, ist in meiner Wohnung nichts anderes kaputt gegangen, nicht einmal ein Bilderrahmen ist umgefallen.
Die Sache mit boncuk und Spiegel erzaehlte ich meiner Freundin D., die ich gerade auf dem Dorf ihrer Familie in der Schwarzmeerregion Bartın besuche. Erschrocken sah sie mich an, befragte zur Sicherheit ihre Tante: ein kaputtes boncuk bedeutet Unglück, bedeutet, dass mich nazar getroffen hat. Zum Glück könne die Tante ihres Mannes den bösen Blick vertreiben. Nachdem ich mich der letzten Monate noch einmal in ihrer ganzen Pracht erinnert hatte, war ich bereit und so fuhren wir gestern Abend auf das Dorf zur Tante.
Die alte Frau mit den blauen Augen entfachte im dunklen Hinterhof ein kleines Feuer und schmolz darüber Blei in einer Pfanne. Alle Frauen der Familie versammelten sich interessiert und setzten D. als erste auf den kleinen Plastehocker, um mir die Prozedur zu zeigen und so die Angst zu nehmen. Bei D. verlief alles ruhig, sie war von zwei Menschen verhext worden und wurde ausserdem von einer Angst befreit – dann war ich an der Reihe.
Ich setzte mich auf den Hocker, liess den Kopf haengen, die Tochter breitete eine Decke über mich. Die alte Frau goss über mir das flüssige Blei in eine Schüssel mit kaltem Wasser. Es zischte extrem laut, das Wasser spritzte aus der Schüssel durch die Decke auf mein Kleid, alle schrien auf. Die Frau bespritzte mich dreimal mit Wasser aus der Schüssel. Dann erfuhr ich, dass sie sich am Arm verbrannt hatte. Das passiert ihr sonst nie. Das Blei war in unzaehlige kleine Stücke zerfallen – das Zeichen für die unzaehligen nazar, die ich auf mich gezogen hatte. Das Blei wurde wieder eingeschmolzen, das Ritual wiederholt – entsetzt erklaerte mir die Frau, dass ich noch mehr nazar hatte. Beim dritten Mal hörte ich noch unter der Decke wie alle anderen erschrocken, dass ich so viel böse Blicke gesammelt hatte, dass das Ritual bei mir sogar fünf- anstatt gewöhnlich dreimal wiederholt werden musste. Beim vierten Mal befreite mich die Frau von einer grossen Angst – und ich wusste sofort, von welcher. Schliesslich war das Blei beim fünften Giessen auf einmal sauber und ein grosses schönes Gussstück ohne Spuren des Bösen. Dann trank ich noch fünf Esslöffel des Bleiwassers, um den Schutz zu aktivieren.
Die Frau erklaerte mir, dass ich viele nazar auf mich ziehe, weil ich so schön sei, was ich selbst ja nicht so ganz nachvollziehen kann – und dass ich jeder Zeit wiederkommen könne. Das von mir angebotene Geld wollte sie nicht annehmen, lediglich einen Lira nach sehr viel Diskussion. D.s Tante meinte noch, einige Leute seien grössere nazar-Magneten als andere. Die meisten bösen Blicke erhaelt man aus Neid. Ich musste daran denken, dass man mich anblickte, als ich alles hatte. Als alles perfekt war, verlor ich das mir Wichtigste.
Zum ersten Mal seit Langem schlief ich in der letzten Nacht ohne verrückte Traeume. Zum Geburtstag hatte ich eine Silberkette mit einem boncuk bekommen, die hatte ich zufaellig mit und nehme sie nun nicht mehr ab, auch nachts nicht.
Es mag Aberglaube sein, aber hier auf dem türkischen Dorf glaubt man an nazar und boncuk, der hoca (İmam) nimmt es ernst. Ich glaube auch daran. Von allem Bösen bin ich vorerst befreit. Welche Auswirkungen das hat, weiss ich noch nicht. Aber ich weiss auch noch nicht, wie türkische Maerchen eigentlich enden.
© janavar
(erstmals veröffentlicht am 8. August 2011)