Kurz vor Pfingsten schrieb eine deutsche Fashionbloggerin, dass sie übers Wochenende nach Istanbul fliegen würde und ob ihre Leser noch Tipps hätten, u.a. auch zur Kleidung. Obwohl ich den Blog sonst still lese, habe ich dort kommentiert und auch geschrieben, dass es schwierig sei, mit Miniröcken und kurzen Shorts durch die Stadt zu laufen. Nach mir haben sechzig andere kommentiert, Istanbul sei supermodern, superoffen und supertolerant, vor allem was Kleidung angehe. Überhaupt sei die Stadt sogar noch moderner als die mittel- und westeuropäischen Großstädte. Ich habe mich gefragt: Wo ist dieses Istanbul??? Ich habe es in meinen drei Jahren hier nicht gefunden. Natürlich gibt es einige Viertel, die etwas offener sind, weil dort die gebildeten Schichten wohnen. Nach ihrem Trip hat die Fashionbloggerin geschrieben, kurze Kleidung sei kein Problem gewesen. Man dürfe eben nicht so empfindlich sein und müsse die Blicke ignorieren. Da ist mir u.a. bewusst geworden, dass Touristen Istanbul, die Türkei ganz anders wahrnehmen.

Der Taksimplatz heute Nacht, Foto von einer Freundin
Vor zehn Jahren soll Istanbul tatsächlich eine moderne, offene Stadt gewesen sein. Aber seit 2003 regiert die AKP (= Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, islamisch orientiert) unter der absoluten Herrschaft von Recep Tayyip Erdoğan, der seine Macht auch weiter festigen will. Er ist der, der am lautesten schreien kann. Seine Rhetorik der 1930er Jahre ist erst einmal überzeugend, seine Inhalte verstehen die ungebildeten Schichten, an die er sich richtet wenig bzw. nur, weil die Ziele so platt sind. Er will nicht, dass Paare sich auf offener Straße küssen. Dass Alkohol in der Öffentlichkeit getrunken wird. Dass die Frau eine gute Hausfrau und Mutter, aber nichts anderes wird. Mindestens drei Kinder erwartet er von jeder. Er will einen Vorbildstaat für die islamische Welt bauen.
Er will riesige Moscheen in Istanbul bauen lassen, die man so weit wie möglich sehen kann. Seine Großbauprojekte halten die Wirtschaft in Schwung und die Menschen beschäftigt. In der Zwischenzeit fördert er das Verbot der Meinungsfreiheit und die Pressezensur, unzählige Journalisten sitzen in Gefängnissen. Ich bin mir sicher, dass auch unser Festnetztelefon abgehört wird, das passiert wenig unauffällig.
Auch wenn die Medien, besonders die türkischen sich seit dieser Woche stark zurückhalten, wird deutlich, wie mächtig die sozialen Netzwerke sind. Seit gestern stehen an der Spitze der Twitter-Hashtags drei: #occupygezi #SesVerTürkiyeBuÜlkeSahipsizDegil (Gib der Türkei eine Stimme, dieses Land ist nicht ohne Besitzer) #TürkiyemDireniyor (mein Türkei widersetzt sich)
Proteste gibt es eigentlich schon seit dem ersten Mai in Istanbul, als die Regierung die Maidemonstration am zentralen Taksimplatz verboten hat, damit die Demonstraten nicht in die Großbaustelle fallen würden, und die Polizei sofort mit Tränengas gegen die doch Gekommenen vorgegangen ist.
Doch wirklich eskaliert ist die Situation diese Woche: der große Erdoğan will den letzten Park im Zentrum – und wir reden von einer winzigen Fläche, ich schätze von zwei bis drei Hektar – zerstören und dort eine alte osmanische Kaserne wiederaufbauen, in die er ein Einkaufszentrum stecken will. Gegen diese Zerstörung haben sich Demonstraten friedlich im Park versammelt, doch sofort ging die Polizei wieder mit Wasserwerfern und Tränengas vor. Die Bilder verbreiteten sich rasendschnell online. Senioren wurden getreten, Jüngere blutig geschlagen.
Doch der Protest wurde nicht gestoppt, sondern auf einmal sind die Istanbuler aktiv. Sie gehen zum Taksim, um die anderen zu unterstützen. Inzwischen fordern sie lautstark den Rücktritt Erdoğans. Denn es geht nicht nur um ein paar Bäume, es geht um die Zukunft des ganzen Landes. In anderen Städten unterstützen die Menschen die Istanbuler mit eigenen Demonstrationen. In Ankara setzt die Polizei ebenfalls Tränengas ein.
Ich bin immer noch in Thessaloniki, aber bekomme natürlich Berichte von meinen Freunden. Ich mache mir Sorgen. Es klingt furchtbar, wenn meine Freunde, von denen viele in der Taksimgegend wohnen, sagen, sie haben eine Menge Tränengas abbekommen. Das Gas gelangt inzwischen durch jede Ritze in alle Wohnungen der Gegend. Trotzdem bleiben viele nicht zu Hause, sondern gehen auf die Straße, um die Bewegung zu unterstützen. Obwohl ich dem Lieblingsmenschen das Versprechen abgenommen hatte, zu Hause zu bleiben, zeigen Bilder auf Facebook, dass auch er auf der Istiklal Caddesi war. Mit einer Gasmaske um den Hals. Ich kann ihn verstehen, auch wenn ich mir große Sorgen mache.
Die letzten Bilder, die ich gerade gesehen habe, zeigen vierzigtausend, die über die Bosporusbrücke marschieren.
Istanbul befindet sich im Ausnahmezustand.

Foto von Occupy Turkey
Trotzdem wünsche ich mir, dass die Proteste gelingen, dass sie eine positive Veränderung in diesem politisch schwierigen Land bewirken. Dass die Demonstranten sich nicht einschüchtern lassen oder schnell müde werden. Im Internet sprechen sie vom “Türkischen Sommer”, ich hoffe, sie bekommen ihn.
Wen ich nicht verstehe, sind Bekannte, die auf Facebook schreiben, es ginge um ein paar Bäume und es möge alles schnell vorbei sein. Das ist zu simpel und kurz gedacht. Es geht um alles. Islamische oder westliche Zukunft?
Vielleicht kann ich in der Zukunft wieder problemlos Miniröcke tragen – oder eine schwarze Burka.
Erfahrt mehr hier:
http://www.tagesschau.de/ausland/protest-istanbul112.html
http://occupygezipics.tumblr.com
Auf Facebook die Gruppe: Occupy Turkey
© janavar
5 thoughts on “#occupygezi – Das passiert in Istanbul jetzt!”