Da bin ich wieder, zurück von unserem Urlaubswochenende in Izmir und wollte euch eigentlich von so vielen schönen Dingen erzählen. Zum Beispiel dass mein Blog am Sonntag bei Ina vorgestellt wurde, worüber ich mich total gefreut habe. Dass wir ein wunderschönes Wochenende hatten. Von der Hochzeit wollte ich euch erzählen. Und vom Strand. Dass ich zwar gestern früh zurück nach Istanbul geflogen bin, aber trotzdem den ganzen Tag gut durchgehalten habe, bis zu einem tollen Konzert am Abend. Dass wir heute eigentlich zur Abiturzeugnisübergabefeier gehen wollten. Dass es nun langsam ruhiger wird, da die Sommerferien vor der Tür stehen und vor mir nur noch eineinhalb Wochen Arbeit liegen.
Von vielen dieser Dinge werde ich euch sicher auch noch mehr erzählen, aber erst einmal stehen wieder die Proteste im Vordergrund. Gestern war es sehr ruhig, so ruhig, dass es jedem verdächtig vorkam. Heute früh hat die Polizei begonnen, den Taksimplatz zu räumen. Um sechs Uhr ist sie mit Tränengas, Wasserwerfern und Plastikgeschossen auf den Platz gedrungen, hat sämtliche Barrikaden abgerissen und alle Spruchbänder entfernt. Diese sind auch der angebliche Grund für die Räumung: der Taksimplatz soll nur von den Spruchbändern befreit werden, der Gezipark würde nicht angegriffen. Aber das Tränengas hat natürlich auch den Park und den ganzen Stadtbereich dort eingenebelt. Einige Demonstranten sollen die Polizisten mit Molotowcocktails und Steinen angegriffen haben.
Bilder und Gerüchte in den sozialen Netzwerken behaupten, dass diese gewalttätigen Demonstranten zur Polizei selbst gehörten:
Eigentlich wollte Erdoğan sich morgen mit den Demonstranten zu einem ersten Gespräch treffen, jedoch hatten die Sprecher des Gezipark-Protests schon gestern gesagt, dass sie nicht zu dem Treffen eingeladen wurden. Während die Proteste auf dem Taksimplatz weitergehen, hält Erdoğan gerade eine weitere Rede bei einem Parteitreffen. Er verteidigt wieder einmal sowohl sich als auch sein Vorgehen. Dass seine Geduld langsam zu Ende sei, hatte er schon am Wochenende angekündigt. Dieses Mal erklärt er, dass alle seine Entscheidungen und der Polizeieinsatz richtig seien. Er wiederholt, wie schön welche Städte ihn wann und wo unterstützt haben – und welche nicht. Dass er für den großartigen wirtschaftlichen Erfolg der Türkei in den letzten zehn Jahren verantwortlich sei (der Lira ist übrigens seit heute früh weiter gefallen). Er redet von Randgruppen, die leider mit ihren Protesten die Demokratie gefährden. “Leider, leider.” Zwischendurch immer wieder arabische Formeln, Wortwiederholungen, langsames und betontes Sprechen, als wäre er ein Priester. — Ich verstehe nicht alles, was er sagt, deshalb kann ich nicht mehr wiedergeben. Die Rede ist auch noch nicht beendet.
Es sieht nicht so aus, als wolle der Ministerpräsident in absehbarer Zeit die Proteste friedlich beenden. Ich bin gespannt vor den Reaktionen der Istanbuler, die jetzt noch auf der Arbeit sind, aber heute Abend garantiert wieder auf die Straßen strömen. Inzwischen fürchte ich mich auch vor den weiteren Entwicklungen. Offenbar hält der Ministerpräsident so sehr an seiner Macht fest und ist davon auch vollkommen überzeugt, dass er die Spaltung des Volkes und gewaltsame Proteste in Kauf nimmt. Für das nächste Wochenende hat er für seine Anhänger auch zwei Großdemonstrationen in Ankara und Istanbul geplant. Böse Zungen sagen, diese müssten an zwei verschiedenen Tagen stattfinden, damit die Anhänger mit Bussen von der einen zur anderen Stadt gefahren werden können.
Ob ich heute Abend zur Abiturfeier gehen werde, weiß ich noch nicht. Denn einerseits möchte ich gerne meine Schüler sehen, andererseits ist mir meine Gesundheit auch wichtig – und jeder meiner Wege zur Feier, die sowieso schon vom Konsulat verlegt wurde, führt trotzdem über den Taksimplatz oder eine der wichtigsten Hauptverkehrsadern der Stadt.
Der einzige türkische Fernsehsender, der übrigens von Anfang an über die Proteste berichtete, der Regierung auch kritisch gegenüber steht und deshalb offenbar schon mehrere Warnungen erhalten hat, ist das Halk TV, das hier im Livestream ständig die neusten Entwicklungen zeigt, im Moment sogar Erdoğans Rede direkt neben den Bildern vom Taksimplatz, wo die Tränengaspatronen platzen.
© janavar
Es ist erschütternd und tragisch, was sich in diesen Stunden in der Türkei abspielt. Massenverhaftungen von Anwälten, brutalste Polizeieinsätze. Wie kann eine Regierung so gegen das eigene Volk vorgehen? Das ist Faschismus und hat nichts mit dem Rechtsstaat zu tun
Du wurdest von mir getaggt, ich würde mich wirklich sehr freuen wenn du beim Fragen beantworten mitmachst.
Lg Andrea von Meinselbermachjahr
http://meinselbermachjahr.wordpress.com/2013/06/11/11-fragen/
vielen herzlichen dank für das update. schrecklich, was dort gerade passiert und auch schrecklich, wie erdogan immer mehr zum “diktator” wird…