Was bleibt, wenn man geht?
Was bleibt, wenn man nicht geht?
Was bleibt nicht, wenn man geht?
Was bleibt nicht, wenn man nicht geht?
Was geht, wenn man bleibt?
Was geht, wenn man nicht bleibt?
Was geht nicht, wenn man bleibt?
Was geht nicht, wenn man nicht bleibt?
Erstaunlich an meinem derzeitig fünftägigen Aufenthalt in Kiel ist, dass ich mich bei der Ankunft in Deutschland überfordert gefühlt habe. Sieht man mal von der kurzen Heimreise zu Weihnachten ab, die ich zudem im eingeschneiten Dorf verbrachte, ist dies mein erster richtiger Deutschlandbesuch. Und dieser ist nicht schlecht. Er ist voll von Rhabarberkuchen, Kartoffeln, Schweinefleisch, aktuellen Nagellackfarben, blonden Menschen, der deutschen Sprache, deutschen Büchern, Sekt, deutschem Bier, usw. usw. usw. Selbst der Kaffee schmeckt besser und ich erkenne, dass Nescafé doch nicht die absolute Lösung für alles ist.
So viel Zeit wie möglich versuche ich draußen zu verbringen und wir hatten hier am Freitag starken Wind und Herbststimmung, gestern Frühlingswetter und heute den Sommer. Ich hänge in den Liegestühlen der Cafés am Wasser und chille in der warmen Sonne, die die Einheimischen bereits zu knappen Sommersachen animiert, während ich mir nur die Ärmel hochkrempele. Dabei würde es hier mal niemanden zu blöden Kommentaren hinreißen, trüge ich knappere Sachen.
Was natürlich nicht bedeutet, dass ich Istanbul nicht vermisse. Es ist verdammt ruhig hier, die Stadt ist vergleichsweise winzig, die Wege so kurz. Ich tausche mich mit Lehrern anderer Auslandsschulen aus und schwärme von meiner Stadt. Mit den Schülern rede ich eine Mischung aus Deutsch und Türkisch. Vorletzte Nacht analysierte ich im Traum Türkischvokabeln – kein Kommentar dazu.
Aber gestern Abend war der vielleicht seltsamste Moment: mit meiner Schülergruppe lief ich zu Fuß vom Landtag ins Stadtzentrum. Genau in diesem Moment wurde das neuste Aida-Kreuzfahrtschiff getauft, das Ereignis mit einem fantastischen großen Feuerwerk und passender Musik abgerundet. Und wir blieben die etwa zwanzig Minuten einfach stehen und betrachteten die unzähligen Raketen, die wie ein Sternenregen über dem Schiff aufgingen. Um uns herum standen Tausende von Besuchern, von denen viele extra angereist waren. Und in diesem Moment tat es ein bisschen weh, nicht bleiben zu können. Zu wissen, dass ich immer weitereile, nie dauerhaft bleibe – bisher wenigstens. Und ich fragte mich, ob Istanbul mich auf Dauer halten wird. Kann ein Ort überhaupt eine Person halten? Was hält uns? Was treibt uns an? Was, wenn ich niemals irgendwo ankomme und bleibe? Zum ersten Mal ein etwas beängstigender Gedanke.
Andererseits ist mir wohl bewusst, dass ich nach spätestens drei Wochen in so einer Kleinstadt schreiend im Kreis herumlaufen würde, würde mich eingeengt fühlen, vor der spießigen Gesellschaft flüchten. Ich würde mich hier auf lange Sicht nicht wohl fühlen. Nicht umsonst habe ich quasi fünfzehn Jahre lang meine Auswanderung geplant. In Deutschland ist alles immer so klein und wenn ich eine etwas längere Zeit hier bin, will ich schnell wieder weg.
Vielleicht brauche ich beide Einsichten, um weiterzusuchen, auch wenn mir nicht klar ist, nach was, außer nach Zufriedenheit, nach Glück, falls dies zählt. Und irgendwann vielleicht wird mich etwas halten und wenn nicht, so kann ich immer noch eine exentrische alte Dame von Welt werden, die überall in ihren Perlen und rosa Kostümchen mit gebeugtem Rücken durch die Straßen stolziert.
Oder in den Worten des türkischen Dichters Ahmet Kutsi Tecer:
Orda bir köy var uzaktaOrda bir köy var uzakta O köy bizim köyümüzdür Gezmesek de tozmasak da o köy bizim köyümüzdür[…] Orda bir yol var uzakta |
Dort in der Ferne ist ein DorfDort in der Ferne ist ein Dorf Dieses Dorf ist unser Dorf Ob wir hingehen oder nicht dieses Dorf ist unser Dorf[…] Dort in der Ferne ist ein Weg |
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© janavar
(erstmals veröffentlicht am 10. April 2011)