Die Arbeit, das süße Leben und so

Wenn keine neuen Blogeinträge mehr erscheinen, ich seit fast drei Wochen nicht mehr mit meiner besten Freundin telefoniert habe, mein Mitbewohner die neue Roxette-CD auswendig mitsingen kann und sich darüber beschwert, wenn ich meine Lesebrille wegen Kopfschmerzen nach Monaten wieder trage, ist eines klar: ich arbeite zu viel!

Am Marmarameer auf der europäischen Seite

Gut, als meine älteste Kindergartenfreundin eine Woche lang zu Besuch war, habe ich wenig gearbeitet, sondern ihr mein Istanbul gezeigt. Wir fuhren zum Mittagessen mal eben mit der Fähre nach Üsküdar auf der asiatischen Seite, zum Spaziergang in der Abendsonne nach Kadiköy in Asien und zum großen Auslauf an die Marmarameerküste im europäischen Teil. Wir besuchten den Gewürzbasar, den Großen Basar, die Blaue Moschee, sämtliche Souvenirläden, viele Läden auf der Istiklal Caddesi.

Als sie wieder weg war, nahm ich meine Korrekturen wieder auf. Damit habe ich meine letzten zwei Wochen verbracht: Korrigieren, korrigieren, korrigieren. 90 Klausuren, 15 Semesterarbeiten. 120 mündliche Noten. Nun habe und bin ich fertig, also seit etwa zwei Stunden. Morgen ist Notenabgabe.

Aber keine Angst, ich werde mich auch weiterhin nicht langweilen: da ist ja noch die anstehende Konferenzwoche; das große Projekt einer eigenen Model United Nations Konferenz an unserer Schule im nächsten Jahr (inşallah), das ich gerade mit meiner Schülergruppe ausarbeite; das Eingeben aller Noten im türkischen Onlinesystem; das Schleppen von ein paar Möbeln, die ich einem Kollegen abkaufe; das Putzen meiner Wohnung, bevor ich in die Sommerferien verschwinde; einige Dinge, die ich noch unbedingt erledigen will, bevor ich drei Wochen in der dänischen Walachei verbringe; vielleicht sogar ein genaueres Planen der Anfahrt in die Walachei selbst; zwischendurch das Erscheinen bei einigen kulturellen Veranstaltungen, schließlich haben wir gerade Kulturwoche und nächste Woche Sportwoche, wobei ich das Beiwohnen bei letzterer aus Tolpatschigkeitsgründen weitesgehend vermeiden werde; ein genaues Durchplanen meiner Sommerferien, schließlich will ich meine Freundin D. im August in ihrer Heimatstadt irgendwo am Schwarzen Meer besuchen; Kofferpacken ist auch nicht zu vergessen, dreißig Kilo für drei Wochen müssen genaustens geplant und berechnet werden, auch wenn die ganze Sache spätestens beim Rückflug sämtliche Begrenzungen sprengen wird; apropos: ich muss noch einen Rückflug buchen, zur Zeit kann ich mir noch nicht einmal einen Tag ohne Istanbul vorstellen; und überhaupt wer wird meine neu gekauften Blumen gießen?; …

Auch wenn vielleicht der größte Zeitdruck vor zwei Stunden von mir gefallen ist, möchte ich die nächsten zweieinhalb Wochen noch so Vieles machen. Bücher lesen wäre eine solche Sache. Gerade habe ich Orhan Pamuks Bücher entdeckt und zwischendurch, vor allem in der Straßenbahn, “The Naive and Sentimental Novelist” (2010) verschlungen – ganz fantastische Essays über das Lesen und das Schreiben von Romanen -, mit “The Museum of Innocence” (2009) angefangen und “Other Colours. Writings on Life, Art, Books and Cities” (2007) liegt auch bereit. Aber nur 30 kg Gepäck in den Sommer … Schade, dass ich mich nicht mehr erinnern kann, wann ich das letzte Mal ein paar Stunden einfach nur auf meinem Sofa gelegen und gelesen habe.

Sonnenuntergang über Istanbul, von Kadiköy aus gesehen

Aber mein soziales Leben soll auch nicht zu kurz kommen. Kommt es auch nicht. In den letzten Wochen war ich sehr aktiv. War auf vier Konzerten (Nev und Yalin; Manga; Atiye; Roxette), im Kino (“Fluch der Karibik 4”), sah das Fußballspiel Türkei gegen Belgien in einer Kneipe, tanzte eine Nacht durch mit Erasmusstudenten bis morgens um halb fünf und habe einen Moment besonders in Erinnerung behalten:

Als wir in einer Gruppe von fünf Leuten nachts um eins ans Meer in Kadiköy gingen, auf den riesigen Steinen saßen, Sonnenblumenkerne knackten, erzählten und manchmal einfach nur auf das dunkle, glitzernde Meer hinaussahen, auf dem bunt erhellte Boote kreuzten. Hinter uns prügelten sich Betrunkene mit den Sicherheitsleuten, in der Ferne waren die Inseln als noch dunklere Erhebungen zu erkennen. Rechts von uns das taghellerleuchtete europäische Istanbul mit der angestrahlten Ayasofya und der Blauen Moschee, mit wenigen Hochhäusern im Hintergrund. Es strahlte eine Ruhe aus, wie sie in dieser Stadt eigentlich niemals zu finden ist. Sie schien so klein und nah, so greifbar, vielleicht sogar begreifbar, aber so viele Dinge, Personen dort sind von mir unendlich weit entfernt. Aber in dem Moment, nachts um zwei spielte dies alles einmal keine Rolle.

© janavar

(erstmals veröffentlicht am 7. Juni 2011)

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