Ich entschied mich vor allem aus praktischen Gründen, im europäischen Teil Istanbuls zu wohnen, weil ich von meiner Wohnungstür bis zur Arbeit maximal dreißig Minuten brauche, wenn ich die Straßenbahn nehme. Außerdem war ich im Juli nur sehr kurz hier und ließ mir von genau einem Makler genau drei Wohnungen zeigen. Nachdem mir die erste am besten gefiel, hatte ich auch keine Lust mehr, für die Besichtigung anderer Apartments quer durch die ganze Stadt zu gondeln.
Da das Dach des Nachbarhauses immer noch nicht gebaut ist – im Juli sah die Baustelle genauso aus wie jetzt, obwohl an jedem Werktag fleißig gehämmert und gebohrt wird – , habe ich seit meinem Einzug einen eindrucksvollen Blick auf den Bosporus von meinem Balkon aus. Immer wieder beobachte ich den dichten Schiffsverkehr: die großen Tanker, die morgens den Bosporus in Richtung Schwarzes Meer und abends in Richtung Marmarameer befahren, die an- und ablegenden Kreuzfahrtschiffe, dazwischen die unzähligen kleinen Fähren, die sich elegant durchschlängeln. Und ich konnte es nicht erwarten, auf einer dieser Fähren zu sitzen, mir vom Fahrtwind die Gischt ins Gesicht spritzen zu lassen, Istanbul von der Wasserseite zu sehen wie auf sämtlichen Postkarten und endlich den asiatischen Teil der Stadt zu erkunden. Bis dahin kannte ich dort nur den Sabiha-Gökçen-Flughafen und die Autobahn vom Flughafen über die Bosporusbrücke bis zum Taksim-Platz.
Am letzten Sonntag war es dann soweit: Mit Freunden machte ich ein Treffen am Fähranleger in Kadiköy aus. Voller Vorfreude fuhr ich mit der Tram bis zur Fähre in Eminönü: Von dort fahren nämlich die größeren Schiffe ab, denn obwohl Kabataş viel dichter ist, gibt es dort nur Nussschalenbötchen. Zwischen mir und dem Wasser gibt es schon lange einen Kampf: ich habe kein Problem, mit einem Schlauchboot über einen Teich zu paddeln, aber Segeln auf der ruhigen Warnow in Rostock löste ein hohes Adrenalin-aus-Panik-Gefühl aus; auf den großen Fähren von Rostock nach Skandinavien geht es mir immer gut, aber auf dem Wasserweg von Slowenien nach Venedig hatte ich ein Wiedersehen mit meinem Frühstück; ich kann immerhin schwimmen und habe es bis zur Stufe Seepferdchen gebracht, aber Tauchen ist nicht – sobald schon in der Badewanne versehentlich mein ganzes Gesicht unter Wasser gerät, graust es mich.
Dennoch stieg ich gespannt auf die Fähre nach Kadiköy, war enttäuscht, dass die Sitzplätze an den äußeren Seiten schon besetzt waren und ließ mich im Schiffsbauch nieder. Und spürte sofort jede Welle, die das ganze Schiff schwanken ließ. Von der Fahrt selbst habe ich nicht viel mitbekommen, weil ich die meiste Zeit damit beschäftigt war, einen ruhigen Punkt und zwar meine Hände anzustarren. Die Toiletten wollte ich auf gar keinen Fall aufsuchen, nachdem mir deren ekelerregender Gestank schon beim Aufgang entgegengeschlagen war. Ich fragte mich, wie schlimm eine Fahrt erst bei bewegterem Seegang wäre – und gratulierte mir zu meiner Wohnungswahl in Europa. Wie machen das eigentlich die Tausende von Pendlern, die die unzähligen Fähren zwischen den beiden Kontinenten zweimal täglich benutzen? Bewundernswert, absolut bewundernswert!
Sehnsüchtig wartete ich auf das Ende der Reise und dachte noch, dass der Bosporus ja nicht so breit wäre. Nach über zwanzig Minuten näherte sich das Schiff einem Anleger und ich wollte schon glücklich hochschwanken, als ich auf einem Schild „Haydarpaşa“ las – die falsche Station. Ich musste noch weitere zehn Minuten fahren, um als eine der ersten in Kadiköy vom Boot zu hasten und endlich wieder festen Boden unter mir zu spüren.
Einer Sache war ich mir vollkommen sicher: auf der Rückfahrt würde ich den Landweg nehmen!
© janavar
(erstmals veröffentlicht am 19. November 2010)