Warum wir unbedingt den Islam dem Christentum vorziehen müssen, erkläre ich einer Freundin im Traum. Ich verteidige meine Haltung und sage noch, dass der Islam Männern und Frauen wenigstens genaue Verhaltensregeln vorschreibt, als ich aufwache. – Fantastisch, mein Gehirn verarbeitet also tatsächlich all die Informationen, die ich gerade in meinen Sachbüchern und Zeitschriften lese. Als Atheist würde ich ja eigentlich keine der Religionen verteidigen, ich drehe mich lieber noch einmal um und schlafe weiter. Das war definitiv nicht die Lösung, denn nun renne ich durch Istanbul, immer entlang der Stadtmauer und finde keinen Eingang. Dafür findet mich eine Freundin (eine andere als im ersten Traum) und drückt mir einen Brief in die Hand. Was mich am meisten verwundert, ist, dass der Brief auf Dänisch beginnt und mitten drin Türkisch wird. Seit wann kann der Absender eigentlich Dänisch? Und seit wann kann ich so viel Türkisch? Egal, ich muss rennen, denn im Brief steht, dass der Absender nach Amerika geht. Ich muss den Eingang finden … und wache schweratmend auf. – Keine in Istanbul spielenden Bücher auf Dänisch mehr für mich. Aber es erstaunt mich, wie viel Türkisch mein Gehirn unbewusst verarbeitet. Trotzdem hat mich der Traum mitgenommen, beide, und ich stehe endlich auf.
Wie schön, im Badezimmerspiegel begrüßt mich mein Urlaubs-Ich, aka ein Papagei in der Mauser. Meine Haare sind zum Besen mutiert, mein Gesicht hat sich für eine pubertäre Hochphase entschieden und meine Haut ist irgendwie extrem blass. Ich stelle mich mal gerade hin, das soll ja die Laune steigern, aber da sehe ich nur, dass meine Rippen fast die höchste Erhebung meines Körpers sind. Fantastisch. Danke. Außerdem klettert über mir eine fette Spinne herum. Die fasse ich nicht an. Aber der 800-Watt-Staubsauger wird bei dem Vieh wohl auch versagen. Verdammt, wieso habe ich keinen Mann hier? Tja, dieses Problem lässt sich nun nicht lösen, also entscheide ich mich dafür, dass vorerst keiner von uns sterben wird. Ich ernenne die Spinne zu meinem Urlaubshaustier und taufe sie „Arthur“.
Na endlich scheint mal die Sonne, so dass ich nach dem Frühstück mit viel Gepäck zum Strand wandere. Der Frau vor der Tür schmettere ich ein fröhliches „Merhaba“ entgegen, fasse mir direkt danach an den Kopf und sage noch: „Wie blöd bist du denn.“ Jetzt rede ich auch noch mit mir selbst. Am Strand sind nur kleine glückliche Familien. Warum heiraten die Dänen eigentlich so früh? Ungerecht! Ich lege mich auf meine kleine Ikea-Decke und will ein bisschen lesen (nein, nichts über Istanbul!), aber sofort beginnt der Wind den Sand über den Strand, also auch über mich zu treiben. Das tut weh und ich lege mich erst einmal flach hin. Da fällt mir ein, dass ich seit Weihnachten zum Zahnarzt will. Und ich habe vergessen, den Hausmeister für Juli zu bezahlen. Nach einer halben Stunde bin ich paniert wie ein Schnitzel und gehe wieder nach Hause. Dabei sehe ich eine tote Eidechse und ein Muschelschalensplitter bohrt sich in meine linke Fußsohle. In der Ferienwohnung dusche ich mich ab – boah wieso klammert sich der Sand so an meine Wimpern? – und setze mich dann vor die Tür. Ich lese ein bisschen in „Anna Karenina“. Alle untreu, alle ohne feste Absichten. Ich stelle den eBook-Reader aus.
Beim Kaffeetrinken kommt endlich die „Topfgeldjäger“ im ZDF, meine Lieblingskochshow, und ich entspanne ein wenig, bis ich die Riesenflügelameise am Fenster sehe, natürlich von innen. Wie soll ich die denn wegbekommen? Vorerst ignorieren! Ich gehe lieber noch einmal durch die Dünen spazieren, werde in einer entfernteren Ferienhaussiedlung von einer Horde schwarzer Fliegen verfolgt und kämpfe mich durch die Heide zurück, die auf der Wanderkarte eingezeichneten Pfade sind längst vom kniehohen Kraut überwuchert worden. Kurz vor zu Hause beginnt es zu gießen, ein schöner Gewitterregen. Ich renne. Bald stehen der ganze Pflasterweg vor der Tür und die Wiese auf der anderen Seite unter Wasser. Die Fernsehsender haben bei dem Guss keinen Empfang. Ich merke, dass meine Haut sich für einen strahlenden Rotton entschieden hat und brennt.
Am Abend gucke ich Fußball und will etwas schreiben. Keine Inspiration, nur Heimweh. Heimweh, ich und Heimweh? Ja, ich vermisse Istanbul, aber das muss noch ein paar Wochen auf mich warten. Ich will gefälligst jetzt mit einer riesigen Schoko-Obst-Waffel an der Ortaköy-Moschee sitzen. Stattdessen schlürfe ich ein Biermischgetränk. Ich will nach Hause! Aber erstmal gehe ich schlafen. Beim Zähneputzen sehe ich, dass Arthur sich für die Ecke direkt über der Toilette entschieden hat. Nun muss ich immer hochgucken und hoffe, dass er sich nicht viel bewegt. Vor allem, hoffentlich wächst der nicht noch weiter, der Körper ist ja schon fast ein Zentimeter lang. Na, komm, Arthur, ich singe dir noch ein Gutenachtständchen, träum auch schön!:
© janavar
(erstmals veröffentlicht am 8. Juli 2011)