Es war einmal … bla bla bla … und wenn sie nicht gestorben sind … ja, bin ich nicht auch dort? Ich lebe, habe genug Geld für meine Bedürfnisse und bin sozial aufgestiegen. Aber in den meisten Märchen (pure Tiermärchen ausgenommen) ist das Happyend erst mit der Hochzeit erreicht und die meisten Mädchen sind eher dumm. Schön, ja, definitiv, aber auch wirklich dumm. Oder wer nimmt nach zwei Mordversuchen immer noch einen Apfel von Fremden? Oder wer heiratet den König, der eigentlich nur scharf auf gesponnenes Gold ist? Unter den bekanntesten und beliebtesten Märchen findet sich keines, in dem das hübsche Mädchen nicht geläutert werden muss. Gut, in Frau Holle ist es nur die Hälfte und bei Rotkäppchen gibt es immerhin keinen Prinzen. Nehmen wir also Rotkäppchen: kein Mann, süß, aber dumm wie Stroh. Und am Ende wird nicht Rotkäppchen für ihren Mangel an Intelligenz bestraft, sondern der Wolf brutal ermordet. Ende gut, alles gut. Aber der Wolf ist tot.
Zurück zu meinem eigenen Leben. Ich entspreche also keiner Prinzessin, dafür wurde mir zu viel Intelligenz mitgegeben und das Dummchen spielen liegt mir auch nicht. Habe ich aus diesem Grunde meinen Prinzen nicht verdient? So scheint es. Ich musste mir anhören von dem Mann, von dem ich dachte, er wäre der souveränste und selbstüberzeugteste und intelligenteste, ich wüsste zu sehr, was ich will. Ich sei mir zu sicher, habe ein zu geregeltes, zielstrebiges Leben. Ich mache Angst. Aha, ich mache ihnen Angst. Bin ich also am Ende der böse Wolf?
Mein bester Freund erklärte mir neulich: “Hübsche Frauen haben immer einen Freund. Hübsche und intelligente Frauen sind immer Single.” Und ein anderer: “Du bist eine starke Frau, du brauchst einen starken Mann. Viele Männer haben Angst vor dir.” Ja, ich brauche Herausforderungen, philosophische, politische Diskussionen, deren Gegenstände niemand als zu idealistisch abtut, einen permanenten Input und ständige Abwechslung. Dabei will ich aber keine Meinung oder Einstellung ändern, sondern einfach Standpunkte austauschen. Ich meine, wart ihr schon einmal mit Biologen essen, die jede Mahlzeit mit Worten in ihre oft nicht appetitlichen Bestandteile zerlegen? Oder habt ihr schon vor zehn Jahren lange Diskussionen über Atomkraftwerke geführt? Hinterfragt, ob wir einen freien Willen haben oder nur zufällig von biochemischen Prozessen bestimmt werden? Peter Singers Ethik diskutiert? Diese Dinge machen mir unglaublich Spaß und ich lerne gern dazu.
Dieser Spaß am Lernen hat mit Sicherheit auch dazu beigetragen, dass ich mit gerade 26 meinen ersten festen Job begann. Der andere Grund ist noch simpler: wer in einer Arbeiterfamilie in der Mitte Mecklenburgs aka im Nichts und genau in den von größter Arbeitslosigkeit geprägten 1990ern aufwächst, hat nicht so viele Möglichkeiten. Im Gegensatz zu vielen Gleichaltrigen haben meine Eltern mich immer unterstützt, so dass ich auch studieren konnte. Aber nichtsdestotrotz finanzierte das Bafög mein Studium und ich bin mir ständig bewusst, dass ich in drei Jahren mit den Abzahlungen der Schulden anfangen muss. Da sollte ich schon wissen, was ich will und alles allein und selbständig auf die Reihe bekommen. Und ich brauche auch den Selbstbeweis, dass ich zu den wenigen gehöre, die nicht den deutschen Statistiken, was den Zusammenhang zwischen Herkunft-Geld-Bildungsstand betrifft, entsprechen.
Gleichzeitig versuche ich, meine Interessen zu befriedigen und auch ein wenig in die Zukunft zu planen. Deshalb unterrichte ich nicht nur, sondern bin nun Beratungslehrerin unserer Model-United-Nations-Gruppe und plane und fahre mit ihnen nicht nur zu Konferenzen, sondern wir wollen im nächsten Jahr auch unsere erste eigene Konferenz auf die Beine stellen. Außerdem startet morgen (und ich bin schon mächtig aufgeregt) endlich ein weiteres Projekt: ich betreue Schüler bei einer journalistischen Arbeit über lokale und regionale Umweltprobleme. Dabei lerne ich nun selbst sowohl etwas über Politik als auch über Diplomatie, journalistisches Schreiben und Istanbuler Umweltprobleme. Plus: Vielleicht bringen mich diese Aufgaben sogar weiter, was meine Türkischkenntnisse angeht.
Bei all dem funktioniert meine Selbstinszenierung mittlerweile zu 99% reibungslos. Aber ich arbeitet auch daran. Jedes Mal, wenn ich hängen gelassen werde, wandele ich die Trauer, die Wut, die viele freie Singlezeit in Arbeit um (und in den letzten 26 3/4 Jahren hatte ich davon eine ganze Menge). Dreizehn Stunden Arbeit pro Tag? Kein Problem! Aber anscheinend befinde ich mich in einem Teufelskreis: ich werde für meinen Erfolg bestraft, was wiederum eine Festigung desselben bewirkt. Da ich mich nicht in Richtung süß-aber-minderbemittelt verstellen kann, kann ich lediglich hoffen, als Amöbe oder blondes Rotkäppchen wiedergeboren zu werden.
Bin ich wie der Wolf, fresse ich die Leute? Natürlich bin ich nicht immer nett, zicke manchmal herum oder sage unüberlegte Dinge. Aber ich nehme niemanden ein, bin froh, wenn ich genug Zeit habe, auch meine Sachen zu erledigen. Ich führe niemanden auf den falschen Weg, überliste sie nicht und lecke noch nicht mal daran, geschweige denn dass ich zubeiße. Trotzdem mache ich eindeutig Angst.
Was also, wenn vielleicht der Wolf die ganze Zeit missverstanden wurde? Er wusste, was er wollte und hat mit der Dummheit Rotkäppchens erfolgreich gespielt. Dass er am Ende ermordet wurde, war dann nur ein schweres Unglück. Obwohl vielleicht der einzelne sich opfern muss, damit nicht nur Rotkäppchen, sondern auch Millionen von Zuhörern und Lesern über die Jahrhunderte aus der Dummheit eines kleinen Mädchens lernen.
Oder war er doch nur egoistisch? Egal, wenn ich mir sein Ende betrachte, bin ich vorerst lieber der einsame Wolf, der nachts schrecklich heult – auch wenn niemand antwortet.
P.s. Von Männern verlangt niemand, dass sie ihre Intelligenz und ihr Selbstbewusstsein ver- oder eigene Ziele zurückstecken. Sie zählen als charismatische Führungskräfte.
© janavar
(erstmals veröffentlicht am 31. März 2011)