Wenn draußen Schnee läge, wäre heute die perfekte Weihnachtsstimmung, denn:
Mit ihren geschätzten 13.000.000 Einwohnern ist diese Stadt eigentlich niemals still. Besonders im Stadtzentrum, also dort wo ich wohne, hört man ohne Unterbrechung Autos, Polizei- und Krankenautosirenen, Hubschrauber, Schiffshörner, Baustellenlärm, Hunde, kreischende Katzen, schreiende Straßenhändler und so weiter.
Aber heute ist alles anders: bis mittags kam überhaupt kein Geräusch von draußen. Kein Gashändler, der versucht, seine Gasfläschchen mit Bimmelton und “Aygaz”-Gesang an den Mann zu bringen. Kein Gemüsehändler, der hupend rückwärts bis ans Ende unserer Sackgasse rangiert. Kein Motorenlärm vom permanenten Stau auf der Meclis-i Mebusan Caddesi, die direkt am Bosporus entlangführt. Übrigens auch kein Gezeter von meiner Unternachbarin, bei der seit dem Wochenende kein Licht brennt, so dass ich darauf schließe, dass sie ihre Familie besucht – und hoffentlich noch sehr lange bleiben wird. Selbst die tägliche Müllabfuhr, die sonst schon morgens um sieben die von den Katzen geplünderten Mülltüten abholt, kam erst kurz nach zwölf.
Kurz darauf waren zum ersten Mal, seitdem ich hier wohne, Kinderstimmen auf der Straße zu vernehmen. Tatsächlich: Als ich aus dem Fenster schaute, sah ich drei Kinder dort spielen. Aus dem Haus gegenüber lief ein schick angezogenes Ehepaar mit großen Tüten zu seinem Auto.
Grund für die angenehme Stille und dafür, dass selbst die Geschäfte heute erst ab dreizehn Uhr öffneten, ist der Beginn des Kurban Bayramı, zu Deutsch Opferfest. Heute und in den folgenden drei Tagen werden in der Türkei geschätzte 400.000 Tiere im Gedenken an den Propheten Ibrahim (Abraham) geopfert.
Da mir schon als kleinem Kind schlecht wurde, wenn meine Großeltern schlachteten, bin ich den türkischen Behörden unendlich dankbar, dass sie das Töten der Tiere auf offener Straße verboten haben. Viele Familien geben dem Schlachter Geld, d.h. eigentlich kaufen sie ganz normal Fleisch. Andere spenden das Geld direkt für die Armen.
Das Opferfest gilt als das bedeutendste Fest des Islams. Es ist außerdem ein Fest, zu dem vor allem die Familie besucht wird. Kleine, nicht eingepackte Geschenke gibt es wohl auch. Ähnlich also wie Weihnachten in Deutschland, wenn ich zum ersten Mal nach Hause fliegen werde. Nur, dass ich als Atheist nicht in die Kirche gehe und gelernt habe, dass Geschenke nicht alles sind – klar wurde mir das übrigens, als meine Eltern mir zu meinem 20. Geburtstag als große Überraschung ein Sailor-Moon-Bettlaken schenkten. Viel mehr freue ich mich auf die ganze Adventszeit und die schöne Stimmung, wobei mir noch nicht klar ist, ob man sie hier einfangen kann. Aber immerhin ist meine Weihnachtsdekoration endlich hier und ich hoffe, meine Nachbarn werden sich am Lichterbogen im Fenster nicht stören.
Mit der Religion ist das sowieso so eine Sache: als ich in Irland lebte, war es am besten, auf die Frage danach mit “Atheist” zu antworten. Man konnte ja nie wissen, ob man einem strenggläubigen Katholiken oder Protestanten gegenübersaß. In diesem Falle versuchten die meisten lediglich, mich von Gott zu überzeugen. Einer meiner Mitbewohner, damals 25 Jahre alt, fragte mich eines Abends: “Du bist ja Atheist. Und wie ist das so bei euch Atheisten, wo trefft ihr euch? Ist das auch so eine Art Kirche?” – Äh, ja …
Hier in Istanbul ist Atheismus leider die falsche Antwort. Nachdem mich einige (durchaus gebildete) Leute darauf angesprochen und meine Einstellung so gar nicht verstanden haben, habe ich mittlerweile die Aussage sogar aus meinem Facebookprofil gelöscht. Die Gründe dafür konnte ich aber bisher nicht herausfinden …
© janavar
(erstmals veröffentlicht am 16. November 2010)