#occupyturkey – Letzte Nacht: Taksimplatz & Tränengas

Liebe Leser,

ich danke euch für eure zahlreichen Kommentare und hoffe, ihr bleibt meinem Blog weiter treu, auch wenn es im Moment keine anderen Themen als die Proteste gibt. Es wird auch wieder eine Zeit kommen für alles andere, aber im Moment stehen die großen Proteste im Vordergrund und ich möchte mich nicht mit Dingen wie Kochen oder Urlaubsbildern beschäftigen.

Ich passe natürlich auf mich auf, aber ich werde nicht zu Hause bleiben. Ich demonstriere friedlich, ich werfe keine Steine. Ich unterstütze die Demonstranten in ihren Zielen, eben weil es ihnen um Demokratie und die Menschenrechte, aber nicht um den Sturz des gesamten Systems geht. Nicht alles finde ich gut, z.B. das Besprühen von Häusern oder Demolieren von öffentlichen Bussen und Autos, dennoch kann ich die Sicht der Demonstranten verstehen.

Taksimplatz

Gestern Abend bin ich mit meinem Lieblingsmenschen zum Taksimplatz gefahren, wo wir zwei seiner Freunde getroffen haben. Mit dem Dolmuş (Minibus) sind wir noch nie so schnell zum Taksim gelangt, weil die Straßen sehr leer waren. Ich war natürlich neugierig, schon deshalb wollte ich auch einmal dorthin. Wie kann ich über etwas schreiben, was ich nicht mit eigenen Augen gesehen habe? Da wird schon deutlich, warum mein Fernstudium Journalismus die richtige Wahl für mich ist.

Auf dem Taksimplatz, dem zentralen Platz auf der europäischen Seite, dort wo die Proteste letzte Woche begannen, hatten sich wieder tausende versammelt. Der Platz selbst, über den ich vor drei Wochen mit meiner Freundin, die zu Besuch war, spaziert bin, ist nicht mehr wiederzuerkennen: er wirkt riesig, seitdem die großen Bauzäune überall verschwunden sind. Die Bushaltestellen sind ebenfalls weg. Es gibt keinen Verkehr mehr auf dem Platz. Dafür Auto- und Buswracke. Barrikaden aus Bau- und Polizeizäunen. Überall Händler, die Wasser, Gasmasken und Taucherbrillen verkaufen.

Taksimplatz

Der Gezipark, um den sich die Proteste entzündet hatten, ist fast idyllisch. Die Bäume stehen alle noch. Dort wird von vielen kostenlos Wasser, Milch, auch Essen verteilt. Medizinstudenten haben dort ihr Lager aufgebaut und helfen Verletzten. Tierschützer helfen den Straßenkatzen und -hunden und waschen ihnen die Augen aus vom Tränengas.

Zurück auf dem Taksimplatz wurde es dunkel. Das Atatürk Kültür Merkezi (AKM), ein älterer Kulturkomplex, dem Gründer der türkischen Republik gewidmet, ist mit Plakaten behängt. Dem Blitzlicht nach zu urteilen haben auf dem Dach einige Journalisten ihr Lager bezogen. Erdoğan hat am Wochenende langen Spekulationen ein Ende bereitet: das AKM soll endlich abgerissen, stattdessen seine Moschee gebaut werden. Eine weitere Provokation für die Demonstranten.

Atatürk Kültür Merkezi

Barrikaden

Wir nahmen die Straße runter in das Viertel Gümüşsuyu, in dem ich eineinhalb Jahre gewohnt habe. Überall singen die Leute oder schreien Forderungen. Mehr nicht. Als wir in der Höhe des Deutschen Generalkonsulats sind, hören wir Knalle. Am unteren Ende der Straße, von Beşiktaş kommend setzt die Polizei Tränengas ein. Ich bekomme vom Lieblingsmenschen seine Taucherbrille, wir setzen unsere Gasmasken auf. Die Masse geht nach vorne, wenn wieder Gas geschossen wird, zurück. Doch mehr Gas geschossen wird, umso weiter gehen wir alle nach vorne. Es ist wie ein Kreis, wer vorne ist, muss kurz zurück, um sich zu erholen, dann geht es wieder vor. Das Tränengas ist furchtbar. Weder Brille noch Maske schützen wirklich. Sehr schnell tränen die Augen, die Nase läuft, man kann nichts mehr sehen. Wir halten uns an den Händen, um uns in unserer Blindheit nicht zu verlieren. Der Lieblingsmensch sagt, das seien nur 10 % der Tränengasmenge, die er und die anderen am Wochenende abbekommen haben. Immer wieder sehe ich, wie Menschen schnell aus der Masse getragen und von Umstehenden und den Medizinstudenten versorgt werden. Das Gas kann den Kreislauf angreifen. Alle helfen. Viele haben Sprühflaschen mit einem Milch-Wasser-Gemisch bei sich, das besonders gut beim Augenauswaschen helfen soll. Alle bieten Hilfe an. Ehrlich gesagt: es ist seltsam, aber ich habe mich in Istanbul noch nie sicherer als in diesem Moment gefühlt.

Die Wolke im Licht der Straßenlaternen ist Tränengas

Irgendwann hört der Gasbeschuss auf, wir husten. Das Gas ist meinen Hals gedrungen und brennt fürchterlich. Ich trinke viel Wasser, bis es besser wird. Dann sehe ich, dass die Demonstranten angefangen haben, die Steine aus den Gehwegen zu reißen. Per Menschenkette werden die Steine weitergegeben und zu großen Barrikaden geschichtet. Beim Zurücklaufen müssen wir hinüber, weil sie die ganze Straße versperren. Wieder helfen alle und reichen uns die Hände. Ich verurteile sie trotzdem, weil ich es nicht für richtig halte, die Gehwege auseinanderzunehmen. Erst heute früh werde ich erfahren, dass die Polizei nachts um eins genau in dieser Straße vorgedrungen ist und diese Steinbarrieren sie aufgehalten hat.

Neue Barrikaden aus den Gehwegsteinen

Wir gehen zurück zum Taksim, wo alle den Hubschrauber ausbuhen, der über uns kreist. Offenbar haben in den letzten Tagen besonders Hubschrauber Tränengas abgeworfen. Der Platz ist noch voller geworden. Weil es aber Mitternacht ist, fahren wir nach Hause, denn wir müssen alle normal arbeiten. Für eine Stunde bleibt es ruhig, dann geht es lautstark weiter.

Währenddessen ist Erdoğan auf seiner Nordafrikareise und erklärt dort auf Nachfragen, dass es keine Probleme gebe und bis zu seiner Rückkehr die Proteste beendet seien. Im Moment sieht es aber nicht danach aus, denn heute haben große Gewerkschaften ihre Mitglieder zum Streik aufgerufen. Wir werden sehen.

Was für mich besonders wichtig ist, ist, dass ich mich gestern davon überzeugen konnte, dass die Proteste auf dem Taksimplatz friedlich sind. Die Polizei setzt Tränengas ein, obwohl die Demonstranten nur singen und schreien. Ein Ministerpräsident, der solche Anweisungen gegen sein eigenes Volk gibt, kann kein Diener desselben sein, auch wenn er sich so bezeichnet.

So gut wie möglich geschützt, alle sehen so oder ähnlich aus

© janavar

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5 thoughts on “#occupyturkey – Letzte Nacht: Taksimplatz & Tränengas”

  1. Schließe mich Wolke an.
    Was gensu passirrt erfahren wir durch die Medien nicht, aber sie zeigen das Geschehen kritisch. Weiterhin alles Gute.

  2. Schließe mich Wolke an.
    Was gensu passirrt erfahren wir durch die Medien nicht, aber sie zeigen das Geschehen kritisch. Weiterhin alles Gute.

  3. Ich finde diese Berichterstattung auch wichtiger, als übers Kochen zu schreiben. in Europa wird man viel zu wenig über die Vorgänge außerhalb Europas berichtet. Pass gut auf Dich auf, damit Du dabei nicht zu Schaden kommst!

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