Als Jugendliche wollte ich unbedingt Gitarre spielen lernen. Ein paar Jahre später erzählte eine Nachbarin: “Zu Anfang klang das Üben ganz fürchterlich, aber irgendwann konnten wir wenigstens ungefähr heraushören, welches Lied du gespielt hast.” Nachbarn hören viel. Meine hatten leider Pech, weil ich bis zur großen Erleuchtung (bzw. dem eindeutigen Hinweis einer Freundin, ich solle bitte nicht mehr zum Radio mitsingen, weil sie sich bei dem Gejaule nicht aufs Autofahren konzentrieren könne) mit etwa siebzehn oder achtzehn noch dachte, ich könnte vielleicht doch irgendwie ein bisschen musikalisch werden. Im Studentenwohnheim wiederum hatte meinen Unternachbarn dieser Geistesblitz noch nicht getroffen, denn er grölte am liebsten laut, aber falsch zu “Time of my life” mit, bevorzugt wenn er nachts aus der Disco nach Hause kam.
Nachbarn sind so eine Sache: von denen in Irland waren wir durch einen Zaun getrennt, in Düsseldorf entwickelten einige männliche Nachbarn Stalkingattitüden und klingelten gern fünfmal am Tag bei mir. In dieser Zeit lernte ich, mich totzustellen.
Und schließlich zog ich in meine Traumwohnung in Istanbul. Die meisten meiner Nachbarn kenne ich nicht, einige wenigstens vom Grüßen. Ich weiß, dass die Leute aus der Wohnung nebenan letzte Woche auszogen, ganz unten steht eine Wohnung leer. Im dritten Stock haben sie einen großen, aber lieben Hund, der meistens im Treppenhaus auf der Fußmatte schläft und lediglich bei Umzugspackern und Paketbringern bellt. Im vierten Stock aber wohnt meine spezielle Nachbarin. Natürlich direkt unter mir.
Zum ersten Mal lernte ich die – scheinbar alleinstehende – Frau etwa vier Wochen nach meinem Einzug kennen, als sie morgens um halb acht im Bademantel vor meiner Tür stand und mir auf Türkisch so einiges an den Kopf warf, von dem ich nichts verstand. Dann erklärte sie es mir in gebrochenem Englisch und endete mit einem arroganten “Do you understand?” An dieser Stelle biss ich mir ausnahmsweise auf meine vorlaute Zunge und verkniff mir die Antwort, dass mein Englisch zufällig hundertmal besser als ihres war.
Das Problem? Ich sei so furchtbar laut. Ich stünde jeden Morgen zu einer unmöglich frühen Zeit um dreiviertel sieben auf. T-ä-g-l-i-c-h! Ich würde mit Hackenschuhen durch meine Wohnung laufen. Überhaupt würde ich ohnehin viel zu viel durch meine Wohnung laufen. Sie könne nicht schlafen, t-ä-g-l-i-c-h wecke ich sie zu einer unmenschlichen Zeit auf.
Dazu mal Folgendes: zufällig beginnt mein Job täglich um halb neun, ich laufe immer barfuß oder auf Socken herum und bin im Normalfall spätestens um elf Uhr im Bett.
In den Wochen danach schrie sie häufiger lautstark, was ich bis oben hören konnte, so dass ich annehme, dass sie sich an mich richtete. Genaugenommen war die schönste Zeit, als sie während des Opferfestes nicht hier war. Übrigens auch die einzige Woche, in der ich erst frühestens gegen neun Uhr aufstand.
Gestern jedoch übertraf die Frau mit den blonden Zotteln und dem interessanten Bademantel (oder manchmal einfach Strickmantel) sich selbst: nachdem ich Freunde zum Kaffeetrinken eingeladen hatte, fing sie meine Freundin Se. auf der Treppe ab und beschwerte sich bei ihr, dass ich immer noch mit Highheels durch die Wohnung liefe, dass ich so fürchterlich laut sei und dass sie heute früh die Polizei riefe, sollte ich böser Mensch sie wieder aufwecken.
Aber das war nicht alles. Als wir das Haus verließen, stand sie auf ihrem Balkon und schrie mir eine ganze Menge Schimpfwörter hinterher, von denen ich zwar lediglich “çok ayıp” (große Schande) verstand, aber das reichte. Alle auf der Straße starrten mich an. Vielen Dank auch! Meine Freunde und ich haben sie jetzt “die Verrückte” getauft, aber ein bitterer Beigeschmack bleibt trotzdem. Mittlerweile schätze ich diese Frau als ziemlich unberechenbar ein und habe Angst, dass sie eines Morgens einfach vor meiner Tür stehen und mich nicht gehen lassen wird.
Nur eines scheint ihr so gar nicht klar zu sein: ich wohne über ihr. Vielleicht ziehe ich wirklich mal meine Hackenschühchen an und hüpfe mal ein Ründchen herum. Oder, wenn es mir irgendwann reicht und sie mich herausekeln sollte, könnte ich dafür sorgen, dass in diese Wohnung eine türkische Großfamilie einzieht … Oh, ich habe eine Menge Rachgedanken …
Da meine türkischen Freunde allerdings meinen, dass nachbarschaftlicher Lärm hier relativ normal sei und die vorgestellte Dame auch nicht die Arbeiter der Baustelle nebenan anschreit, noch nicht einmal Sonntag morgens, frage ich mich doch, ob das Problem meiner Verrückten nicht eigentlich darin besteht, dass ich nicht türkisch bin, denn … viele Türken wollen keine Juden oder Christen (und erst recht keine Atheisten) als Nachbarn … 🙁
Nachtrag vom 16. Dezember: Nun weiß ich es eindeutig – gestern Abend zogen zwischen 18 und 24 Uhr neue türkische Nachbarn neben mir ein und veranstalteten eine ganze Menge Lärm. Madame hat sich nicht einmal beschwert …
© janavar
(erstmals veröffentlicht am 15. Dezember 2010)