Gestern – an meinem halbjährigen Jubiläum in Istanbul – fand ich zwei interessante Dinge:
Erstens sah ich ein Foto, dass an meinem ersten Wochenende in Istanbul gemacht wurde: Im Park der Sommerresidenz des deutschen Botschafters in Tarabya feierten wir den Beginn des neuen Schuljahres. Auf dem Foto stehe ich gemeinsam mit drei Kolleginnen, die ich zu dem Zeitpunkt noch überhaupt nicht kannte, mitten in einem Blumengarten, trage zu meiner blassen Haut (der letzte Sommer in Deutschland war eine Katastrophe) ein gestreiftes Top, einen blauen Baumwollrock und Flipflops (eindeutig nicht mein vorteilhaftestes Outfit). Unter den Sachen zeichnet sich ein sichtbarer Bauchansatz ab, der keine Taille mehr zulässt, und auch meine Beine sehen ein wenig knubbelig aus. Ich erinnere mich, dass ich diese ersten Tage in Istanbul wie in einem Traum verlebte: beeindruckt wusste ich gar nicht, wohin ich zuerst sehen sollte, wachte morgens schon um fünf auf, um gemeinsam mit den kreischenden Möwen und der roten Katze auf dem Nachbardach von meinem Balkon aus den Sonnenaufgang über dem Bosporus zu erleben.
Und heute? Ich bin die gleiche Person, aber doch hat sich einiges geändert. Ein Gewichtsverlust im zweistelligen Bereich hat zu einer traumhaften Sommer-Strand-Bikinifigur geführt hat zu einer wahren Shoppingorgie und unzähligen neuen Klamotten geführt. Dabei änderte sich allmählich mein Style von lässig freizeitlich zu chic und elegant. Wäre mein Leben durch ein Drehbuch festgelegt, wäre sogar der Fotoort Tarabya bzw. eben die Sommerresidenz des deutschen Botschafters wegweisend: neuerdings leite ich die Model United Nations-Gruppe meiner Schule und werde im April an meiner ersten MUN-Konferenz in Kiel teilnehmen – als Delegierte im Businesslook und auf dem Programm steht neben der Konferenz im Landtag selbst u.a. auch ein “Diplomatenball”. Diese neue Aufgabe macht mir unglaublich viel Spaß, weil sie sowohl meine Organisations- als auch meine kognitiven Fähigkeiten fordert. Keine schlechte Entwicklung insgesamt möchte ich behaupten.
Der zweite Fund passierte, als ich gestern Abend eine bestimmte Handtasche aus meinem Schrank holte und darin das Programm des Weihnachtschorkonzerts im Deutschen Konsulat fand (in einer Verfilmung würde spätestens an dieser Stelle das Motiv der Diplomatie auffallen, was umso interessanter ist, als dass dies eine Eigenschaft ist, die mir im bisherigen Leben völlig abgeht), was eine Menge Erinnerungen vor meinen Augen ablaufen ließ. Weil ich wusste, dass ich an diesem Abend so unendlich glücklich war.
Aber wie drückten es Freunde neulich bei einer Tasse Kaffee aus? “In Istanbul fühlt sich alles viel intensiver an. Wenn du glücklich bist, ist das Gefühl noch unendlich viel schöner. Bist du traurig, ist der Schmerz tausendmal so schlimm.”
Dem kann ich nur zustimmen. Istanbul bleibt die Stadt der Extreme und sei es nur meine Gewichtsabnahme. Warum dies so ist, ist mir vollkommen schleierhaft. Aber wie bei allen anderen Drogen auch, sollte man ihre Zusammensetzung vielleicht lieber nicht hinterfragen. Also: vor lauter Zufriedenheit und Glück bin ich meistens so energiegeladen, dass ich gar nicht weiß, wohin mit all den positiven Gefühlen. Andererseits habe ich mit Sicherheit in den wenigen Monaten mehr Tränen vergossen als im gesamten Referendariat und auch dies will was heißen, habe mehr Türen geknallt, mehr Telefonate abrupt beendet. Von Zeit zu Zeit frage ich mich dennoch, ob dies alles nötig ist (ja, ich möchte behaupten, selbst die Tage, an denen ich alles ganz klar sehe, sind hier heller und häufiger):
Brauche ich den Schmerz zum Glücklichsein? Es ist möglicherweise so, dass ich diese riesigen Hochgefühle nur fühle, wenn ich weiß, dass um die Ecke der nächste Tränenkampf wartet. Ich balanciere gerne zwischen den beiden Extremen und bin mir durchaus bewusst, dass ich alles andere langweilig fände. Ich brauche Herausforderungen, kein mittelmäßiges Leben. Natürlich reiße ich meine laute Klappe oft an der falschen Stelle auf, gebe einfach mal fett an, gucke das kleine Bisschen zu arrogant oder lande mit großem Platsch im Fettnapf, aber mittlerweile nenne ich dies Persönlichkeit. Das bin ich. Ich weiß sogar genau, was nicht gut für mich ist, wovon ich mich trennen sollte, aber die unglaubliche Herausforderung gepaart mit einem schier unendlichen Vorrat an Hoffnung lassen mich mich bewusst dagegen entscheiden. Ich renne auf meinem Lebensseilchen entlang und weiß, dass der Abgrund oft genug wartet, aber auf das Risiko zu verzichten empfände ich als tödlich, weil so nichtssagend, so unbedeutend. Ich glaube eben nicht, dass mein Drehbuch irgendwie schon ablaufen wird, wenn ich nur lange genug passiv warte, nein, ich schreibe selbst fleißig daran, jede Sekunde. Und wenn ich falle? Dann habe ich mittlerweile gelernt, dass ich immer überlebe. Dabei hilft: Handy aus, Kleidchen und Highheels an, Pornosonnenbrille auf die Nase und dann noch ein bisschen arroganter durch Istanbul stöckeln und das niemals schlafende Leben tief einatmen und genießen.
© janavar
(erstmals veröffentlicht am 17. März 2011)