Auf einmal ist der Frühling in Istanbul eingezogen, wie ich heute früh um halb acht bemerkte, als ich auf einer Bank in Sultanahmet saß und die Blaue Moschee im ersten Sonnenlicht betrachtete, während ich auf eine Freundin wartete, um vor der Arbeit frühstücken zu gehen. Mein erster Frühling in Istanbul. Auf einmal ist alles heller, alles klarer, alles wärmer, Istanbul ist bunter, die Vögel singen wieder und der Bosporus strahlt je nach Tag in einem kräftigen Grün oder Dunkelblau. Gestern haben ich nach über zwei Monaten das erste Kreuzfahrtschiff am Kai liegen sehen. Auf einmal gibt es kein zu früh oder zu spät mehr, sondern nur ein: was mache ich mit meiner ganzen Energie? Heute lief ich von der Schule auf meinen Highheels zu Fuß nach Hause und freute mich über die laue Luft, über die strahlende Sonne, über die plötzlich wieder unzähligen Angler auf der Galatabrücke, von denen einer einen Fisch einer Möwe in den Schnabel werfen wollte, der Fisch jedoch knapp vor mir mit einem lauten Platsch auf dem Beton landete, über den seine Dreadlocks unter einem indischen Turban versteckenden jungen Mann, der auf der Treppe der Straßenunterführung in Karaköy Freundschaftsbänder knüpfte, über die vielen deutschen Touristen auf der Istiklal, die lautstark ihre Tagespläne besprachen, über das ganze schöne Leben, das danach schreit, die Tage draußen zu verbringen und am besten mit Freunden Wein trinkend am Bosporus oder am Strand zu sitzen. Am Abend fuhr ich spontan zu einer Freundin nach Kadiköy auf der asiatischen Seite und beschäftigte mich auf der zwei Stunden langen Busfahrt (ungünstige Zeit weil Abendverkehr) mit meiner neuen Lektüre, Arthur Schopenhauers “Die Kunst glücklich zu sein”, die ich mir aus reinem Interesse kaufte, um – neben seinen äußerst interessanten Ausführungen – festzustellen, dass Schopenhauer zumindest in diesem Handbüchlein leichter zu verstehen ist als gedacht.
Und dann, wenn ich nun allein zu Hause bin und für einen kurzen Moment meine neue Energie im Zaum halte, fällt mir auf, wie paradox es ist, sich so wohl zu fühlen, wenn um mich herum die Welt explodiert, sei es auf politische oder natürliche Weise. Ja, ich fühle mit den Menschen mit – sei es in Nahost, in Afrika, in Japan oder auch die in den letzten Wochen im Namen von Ergenekon Inhaftierten in der Türkei. Normalerweise neige ich zur Verdrängung: ich gehe nicht auf Beerdigungen, ich vermeide Grabbesuche, ich habe noch nicht einmal einen Fernseher, seitdem ich hier lebe, und der Kauf von Modezeitschriften schafft mehr Ablenkung als der von Tageszeitungen. So gut ich kann, verdränge ich, dass ich mich nie darum kümmere, einen Notfallrucksack und genügend Wasservorräte für den Ernstfall anzuschaffen. Denn ich denke nicht gerne darüber nach, dass Geologen seit Langem ein schweres Erdbeben für die Region Istanbul voraussagen, dass hier aber kaum etwas so gut und erdbebensicher gebaut ist wie in Japan und dass die Regierung sich an ihren Plänen zum Bau neuer Atomkraftwerke in der Nähe festkrallt. Aber da die halbe Welt zur Zeit in Aufruhr scheint, muss auch ich mich diesen realen Bedrohungen gedanklich stellen.
Aber welches ist der richtige Schluss? Ein fatalistischer Ansatz, dem ich nichts entgegensetzen kann? Die absolute Selbstbestimmung? Ich denke, ich bin einem physikalischen Determinismus unterworfen, aber innerhalb seiner Grenzen entscheidet mein freier Wille über mein Leben. Für mich heißt das, dass ich das Leben weiter so ausschöpfen und genießen werde, wie es sich mir gerade bietet. Ich nutze alle Möglichkeiten, bilde mich nach meinen Interessen, begleite mich brennend interessierende Projekte, entwickele nach fast siebenundzwanzig Jahren dank der Model United Nations nun vielleicht doch noch so etwas wie ein diplomatisches Geschick, entdecke irgendwo unter meinen vielen Schichten meine lange verloren geglaubte Ambition, gestalte meine Welt in bunten Farben (ihr wisst schon: bevorzugt in Knallpink), halte die Menschen fest, von denen ich glaube, dass ich sie brauche oder dass sie Hilfe brauchen – oder weil ich sie nicht gehen lassen kann, so lange sie mir keine deutliche Absage erteilen – und hoffe, dass die Welt sich wieder erholt und das kleine Bisschen besser wird. Falls doch das Schlimmste eintritt, so will ich in dem kurzen Moment, der bleibt, wissen, dass ich mein Leben nach meinen Vorstellungen geführt habe und glücklich bin. Und dies ist wohl meine wichtigste Erkenntnis an diesem Frühlingstag.
© janavar
(erstmals veröffentlicht am 16. März 2011)