Als ich heute früh aufwachte, herrschte draußen eines reges Schneetreiben. Wie schön – am 8. März. Während in Deutschland endlich der Frühling einzieht, musste ich spontan mein Outfit auf Wintertauglichkeit ändern und mich mit dickem Schal und Kapuze sowie fast flachen Stiefeletten langsam durch die dicken Schneeflocken den glitschigen Berg hinunter kämpfen. Nun habe ich ja allmählich gelernt, dass Istanbul nicht mein erwartetes Mittelmeerklima hat, aber im März noch Schnee und 0°C finde ich doch arg übertrieben. Netterweise hat es auch nur geschneit, wenn ich draußen unterwegs war.
Dann kam ich zur Arbeit und meine Aufmerksamkeit wurde von einem kleinen Zettel an der Pinnwand erregt: “Dünya Kadınlar gününüz kutlu olsun!” – Alles Gute zum Weltfrauentag! Anschließend gratulierte mir eine ganze Klasse dazu. Ein Kollege verteilte Schokolade. In der großen Pause gab es eine kurze Ansprache vom Direktor und Kekse.
Und es begann eine große Diskussion, wie ernst der Weltfrauentag genommen werden solle. Ich erinnere mich, dass der Tag in meinen ersten sechs Lebensjahren – solange mein Heimatland DDR hieß – groß begangen wurde. Nach 1990 gratulierte meine Mutter immer noch ihrer Mutter und Schwestern, so war es auch in den Familien meiner Freunde. Aber der Weltfrauentag blieb Teil des Privatlebens, hatte in der Öffentlichkeit nichts mehr verloren, war nicht politisch korrekt. Besonders nicht pc bei meinen Ostlehrern nach der Wende, wie übrigens auch der Lehrertag, ein Tag, der in der Türkei ganz groß gefeiert wird. Wenn ich es mir recht bedenke, ist, außer den Lehrern und ein paar wenigen nicht RTL-Gerichtssendungen-schauenden Menschen vielleicht, eigentlich niemand mitten auf dem Dorf (ich rede von maximal 300 Einwohnern) in Mecklenburg pc (als Schlagwörter seien hier nur “die bösen Ausländer”, “die tolle DDR” und “lieber ein Gläschen zu viel als zu viel arbeiten” genannt), aber vor zwanzig Jahren war es scheinbar kurzfristig einen Versuch wert.
Auf privater Ebene jedoch hat sich der Weltfrauentag auch in meiner Generation in den letzten Jahren wieder in Erinnerung gebracht. Und heute hat er, was mein Leben angeht, wieder die Öffentlichkeit erreicht. Der erste Weltfrauentag wurde übrigens genau vor 100 Jahren begangen, nachdem er ein Jahr zuvor auf der Zweiten Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz in Kopenhagen beschlossen worden war – in Anlehnung an den Frauentag in den USA, und hatte den Kampf um das Frauenwahlrecht als oberstes Ziel. Dies wurde in Deutschland 1919 eingeführt, in der Türkei 1930 (auch wenn der Chef heute meinte, die Türkei sei eines der ersten Länder gewesen). Nichtsdestotrotz ist es interessant, kurz Atatürks Wirken bezüglich der Frauen zu betrachten: ab 1923 war er zwei Jahre mit der unverschleierten, intelligenten Latife Hanim verheiratet, die in Paris Jura studiert hatte. Sie schrieb ihm nicht nur Reden, sondern setzte sich auch offen für das Frauenwahlrecht und ein modernes Scheidungsrecht ein. Schließlich übernahm Atatürk 1926 das Schweizer Zivilgesetzbuch, das das alte auf die Schari’a beruhende Gesetzbuch ersetzte und trotz seiner patriarchalischen Prägung der Frau mehr Rechte und Gleichheit sicherte. Während Atatürk einerseits die Gründung einer Frauen-Volkspartei verbot, unterstützte er andererseits den Kampf um die Frauenrechte, weil die für die Erziehung zuständigen Frauen maßgeblich für die Prägung zukünftiger Generationen zuständig seien.
Und heute?
Der Amnesty International Bericht “Türkei: Frauen kämpfen gegen Gewalt in der Familie” von 2004 zeichnet ein erschreckendes Bild: Laut einer Studie, die sich auf den Südosten der Türkei bezog, hatten 51% der Frauen Vergewaltigung sowie 57% körperliche Gewalt in ihrer Ehe erfahren. Eine andere Studie schätzte, dass 58% der Frauen familiäre Gewalt erlitten.
Der türkische Ministerpräsident Erdoğan forderte im letzten Jahr, dass jede Familie mindestens drei Kinder bekommen solle.
Die Aufhebung des Kopftuchverbotes an Universitäten führte dazu, dass das Kopftuch an einigen Unis auf einmal von der Mehrheit der Studentinnen getragen wird, wie mir eine Freundin berichtete. Andererseits ist der Durchschnitt der türkischen Akademikerinnen höher als in vielen anderen Ländern (dazu konnte ich leider keine Zahlen finden).
Und dann sind da noch persönliche Erfahrungen: auf der einen Seite gibt es die jungen, intelligenten Frauen, die sich als Feministinnen bezeichnen, gegen die Ehe im Allgemeinen sind und für die Gleichstellung aller auch beim Christopher Street Day – in Istanbul übrigens eine rein politische Veranstaltung – mitlaufen. Aber es gibt auch die jungen, intelligenten Frauen, die spätestens ab Mitte zwanzig dringend auf der Suche nach einem Mann zum Heiraten sind (alternativlos), für den sie sich übrigens auch wirklich aufsparen. Ebenso gibt es die jungen, intelligenten Männer, die zwar Toleranz propagieren, aber gleichzeitig überzeugt sagen, dass für sie nur eine Ehefrau in Frage kommt, die lediglich Hausfrau und Mutter ist.
Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen, aber für mich steht fest, dass der Feminismus gebraucht wird und vor allem der Weltfrauentag weiterhin seine Berechtigung hat. Und damit: HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH ZUM WELTFRAUENTAG!
© janavar
Quellen: (Zugriff jeweils 8. März 2011)
- Wikipedia: “Frauenrechte in der Türkei.” http://de.wikipedia.org/wiki/Frauenrechte_in_der_T%C3%BCrkei
- Wikipedia: “Internationaler Frauentag.” http://de.wikipedia.org/wiki/Internationaler_Frauentag
- Wikipedia: “Latife Hanim.” http://de.wikipedia.org/wiki/Latife_U%C5%9F%C5%9Faki
- Wikipedia: “Mustafa Kemal Atatürk.” http://de.wikipedia.org/wiki/Mustafa_Kemal_Atat%C3%BCrk
- Der Westen: “Junge Türkei: Mindestens drei Kinder pro Familie.” http://www.derwesten.de/nachrichten/politik/Junge-Tuerkei-Mindestens-drei-Kinder-pro-Familie-id1483062.html
- Björn Rosen: “Die Freiheit der Frau Atatürk.” http://www.tagesspiegel.de/politik/geschichte/die-freiheit-der-frau-atatuerk/1344182.html
- Amnesty International: “Türkei: Frauen kämpfen gegen Gewalt in der Familie.” http://web.archive.org/web/20070927021326/http://www.amnesty.at/vaw/cont/laender/tuerkei/Tuerkei_SVAW_Bericht.pdf
(erstmals veröffentlicht am 8. März 2011)