Bereit für Olympia 2020, aber nicht fürs eigene Volk

Heute Abend wird in Buenos Aires vom IOC der Austragungsort für die Olympischen Spiele 2020 gewählt. Zur Wahl stehen Madrid, Tokio und Istanbul. Bei Twitter stellten die türkischen Bewerber heute früh folgendes Bild online: “Ihre Stadt Istanbul ist bereit. Die Augen sind auf Buenos Aires gerichtet.”

Ehrlich gesagt – und ich hoffe, ich bin nicht die Einzige – sieht dieses Bild für mich wie eine riesige Dusche Gas aus, die über die Stadt geschüttet wird. Daher war ich im ersten Moment auch verwirrt, ob es sich bei dem Twitterbild um Unterstützung oder Kritik handelt. Wobei: sämtliche Kritik-Hashtags werden ohnehin so weit gesperrt, dass sie nicht in der Liste der häufigsten Hashtags auftauchen.

Passend zur Entscheidung heute Abend zeigt sich die türkische Regierung seit gestern wieder von ihrer allerbesten Seite: sie hat gestern begonnen, Bäume auf dem Gelände der Middle Eastern Technical University in Ankara zu fällen, um quer über das Universitätsgelände eine Schnellstraße zu bauen. Traditionell steht diese Universität für Kemalismus, Laizismus und vor allem Kritik an der derzeitigen Regierung. Außerdem gehört sie zu den besten des Landes. Demonstrierende Studenten und Dozenten wurden mit Polizei und Gas begrüßt. Außerdem wurden immer wieder Feuer in dem Wald gelegt, um das Straßenbauprojekt schneller voranzutreiben. Entsprechend gingen gestern Abend wieder in mehreren Städten der Türkei die Leute auf die Straße. Der Gezipark am Taksim wurde wieder gesperrt.

Nun ist der Sommer vorbei, die Leute kommen aus ihren Ferien zurück, die Studenten zurück an die Unis, man hat wieder Zeit zum Demonstrieren. Gründe dafür gibt es fast unendlich viele: Straßenbauprojekte wie das an der METU; die dritte Bosporusbrücke, für die erst einmal der Wald an der falschen Stelle abgeholzt wurde; ein von der Regierung, aber nicht vom Volk gewollter Militärschlag gegen Syrien …

Aber auch die Gegner dieser Proteste haben sich im Sommer formiert. Besonders in den sozialen Netzwerken fällt mir auf, wie viele die R4bia-Hand zum Profilbild gemacht haben – eine schwarze Hand mit vier Fingern auf gelbem Grund, die ein Symbol für den Widerstand von Mursi und den Muslimbrüdern geworden ist. Die Leute, die ich kenne, die dieses Symbol benutzen, unterstützen aber nicht nur Mursi, sondern vor allem auch allesamt die türkische Regierung. Die Hand wird hier in der Türkei nun genutzt, um sich von den Gezipark-Demonstranten abzugrenzen.

Da sich nun fast jeder positioniert hat, wird es in den kommenden Wochen und Monaten wohl viele Zusammenstöße geben – übrigens auch in meiner Schule, befürchte ich, denn auch die türkischen Schüler zeigen ihre jeweilige Meinung offen. Schöner wird mein Istanbul jedenfalls nicht, sondern eher noch gefährlicher. Ich finde aber, eine Regierung, die ihr eigenes Volk so stark spaltet und ihren Gegnern nur mit Gewalt begegnet, hat es auf keinen Fall verdient, die Olympischen Spiele, ein Zeichen für den Frieden, zu bekommen.

P.s. Am ersten September, dem Weltfriedenstag, ist die Polizei natürlich auch gewaltsam gegen die vielen Demonstranten, die friedlich eine Menschenkette bildeten, vorgegangen.

© janavar

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