#occupyturkey – Friedliche Proteste letzte Nacht in Bakırköy

Gegen 21 Uhr gestern Abend ging es los. Durch unsere Straße zogen Frauen, die mit Löffeln auf Töpfen trommelten. Immer mehr Fenster öffneten sich und antworteten ebenfalls mit lautem Trommeln. Wie viele andere nahm ich zwei Küchenutensilien und ging durch unser Viertel bis zum Bakırköy Özgürlük Meydanı, dem Platz der Freiheit, wo sich mehrere tausend Demonstranten versammelten.

Von dort marschierten alle – Familien mit kleinen Kindern, Jugendliche, Erwachsene jeden Alters, Frauen mit und ohne Kopftuch – durch den Stadtteil. Der Verkehr kam zum Stillstand, weil wir durch die Straßen liefen. Doch die meisten Autofahrer zeigten Verständnis und schwenkten selbst die türkische Flagge und hupten permanent, um die Lautstärke weiter zu steigern.

Es wurden Parolen und Forderungen gerufen, die häufigste davon “Tayyip istifa!” (“Tritt zurück, Tayyip [Erdoğan]!”), und Lieder gesungen. Vor Starbucks und Mado wurden die Buh-Rufe besonders laut, weil die beiden Caféketten den Demonstranten am Taksimplatz am Wochenende ihre Hilfe verweigert hatten, während viele andere Cafés und Hotels Protestanten aufgenommen und auch kostenlos Wasser und Milch verteilt hatten, die man zum Auswaschen der Augen nach den Gasangriffen brauchte.

An der Grenze des Stadtteils zur Autobahn, wo sich auch die Metrobushaltestelle befindet, stoppte die Masse zum ersten Mal, blockierte kurzzeitig den gesamten Verkehr und sang. Es ging zurück durch die Wohnviertel, überall schauten Menschen aus den Fenstern und trommelten ebenfalls mit Löffeln auf Pfannen oder Töpfe, um ihre Solidarität zu zeigen.

Zwischendurch wurden wir völlig durchnässt von einem Gewitterschauer, was aber nur wenige dazu brachte, nach Hause zu gehen. Wieder hielt die Menge, dieses Mal auf der Einkaufsstraße und wurde ganz still. Durchnässt in der Nacht, erleuchtet von den Straßenlaternen sangen sie feierlich die türkische Nationalhymne, was mich in dieser Situation und mit den vielen tiefen Stimmen eine unglaubliche, aber auch etwas unheimliche Faszination ausübte. Denn der Text besagt unter anderem: “schenke Frieden uns und Glück,/[…]/Wahre die Freiheit uns, für die wir glüh’n,/Höchstes Gut dem Volk, das sich einst selbst befreit.”

Nach einer weiteren Runde durch ein Wohnviertel versammelten wir uns noch einmal auf dem Platz der Freiheit, bevor die meisten kurz nach Mitternacht nach Hause gingen.

Es war ein vollkommen friedlicher Protest, wir haben keinen einzigen Polizisten gesehen, während gleichzeitig im Stadtteil Beşiktaş wieder Demonstranten und Polizisten gegeneinander kämpften. Während in Izmir das AKP-Gebäude brannte (AKP = Erdoğans Partei) und in Ankara die Polizei Wasserwerfer und Gas einsetzte.

Während mitgeteilt wurde, das Erdoğan erst einmal zu einem Staatsbesuch nach Tunesien aufbreche.

Inzwischen gibt es immer mehr Gerüchte, dass das Internet heute in großen Teilen blockiert werde, in jedem Falle aber die sozialen Netzwerke. Es ist bewiesen, dass der Ministerpräsident die drei privaten Mobilfunkanbieter und auch sämtliche private Medien kontrolliert. Das nennt er Demokratie. Die Demonstranten hingegen bezeichnet er als Plünderer, von denen er sich gar nicht beeindrucken lasse. Die osmanischen Militärbaracken auf dem Taksim sollten weiterhin gebaut werden, vielleicht mit einem Museum darin statt dem geplanten Einkaufszentrum. Dafür soll aber auch auf dem Platz eine große Moschee entstehen.

Heute wird sich zeigen, ob die Menschen nach der Arbeit wieder auf die Straße gehen. Denn bisher ist der Tag wie jeder andere Montag auch. Da die Regierung die Proteste als unbedeutend abtut, werden in den Universitäten Prüfungen geschrieben, in den Schulen unterrichtet und auch alle anderen gehen ganz normal zur Arbeit. Nur auf Facebook und Twitter wird fleißig weitergepostet – “so lange es noch funktioniert”. Ich hatte schon gestern Abend wie viele andere wieder große Probleme mit meinem Handy zu telefonieren, SMS zu versenden und ins Internet zu gehen, vielleicht war aber auch nur das Netz vollkommen überlastet, da die Proteste hauptsächlich übers Internet organisiert werden.

Wenn heute Abend wieder das Trommeln erschallt, werde ich auch mit meinem Topf wieder losgehen. Allerdings brauche ich einen neuen Löffel, den hölzernen habe ich tatsächlich kaputt getrommelt …

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Ich hatte gestern nur mein Handy mitgenommen, daher die schlechte Fotoqualität. Ich habe auch versucht, die Stimmung per Video festzuhalten. Bitte entschuldigt die schlechte Qualität, es war mein erster Videoversuch:

© janavar

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4 thoughts on “#occupyturkey – Friedliche Proteste letzte Nacht in Bakırköy”

  1. Wow. Meine Eltern lesen deinen Blog jetzt auch (über mich) aufmerksam, weil sie die Lage in Istanbul verfolgen wollen. Bitte berichte weiter, ich finde es ganz toll, was da grade passiert!!! Aber pass auf dich auf 🙂

  2. TV, Radio und Printmedien hier in Deutschland zeigen uns nur die Krawalle, Feuer, Polizei… eben das was sich “verkaufen” lässt. Es ist gut zu lesen, dass es durchaus auch friedliche Proteste gibt.

    Und auch ich schließe mich rotkehlchen an, pass gut auf Dich auf.

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