Der stille Protest geht weiter

Es ist ruhiger geworden in der Türkei, seitdem die Regierung am letzten Wochenende so rabiat mit den Protestanten am Taksim umgegangen ist. Vor allem ist die Angst größer geworden, seitdem sie verkündete, jeden Demonstranten ausfindig zu machen und zu bestrafen. Damit wurde bereits angefangen, zuerst traf es Anwälte und Ärzte, dann Demonstranten in Ankara, einen Fußballverein in Istanbul. Wohnungen der Demonstranten und ihrer Helfer wurden zum Teil markiert, einige durchsucht. Inzwischen wurden auch erste Ausländer verhaftet und abgeschoben. Der Taksimplatz und der Gezi Park sind weiterhin von der Polizei besetzt. Die Regierung pflanzt im Park auf einmal Bäumchen und Blümchen. Rundherum spazieren Männer, die zur Geheimpolizei gehören. In den Städten Ankara und Eskişehir wurde auch noch am Mittwoch Tränengas eingesetzt.

Es wird offener darüber gesprochen, dass alles abgehört, E-mails kontrolliert werden. Die Regierung arbeitet derzeit an einem neuen Gesetz, dass die Nutzung der “bösen sozialen Medien” reguliert. Die Privatsphäre soll geschützt werden, falsche Tatsachen dürfen nicht verbreitet werden, auch Übersetzungen türkischer Nachrichten in andere Sprachen wurden bereits kritisiert. Was genau unter das Gesetz fällt, wird von der Regierung selbst definiert und ausgelegt. Es besteht immer noch das Gerücht, das Gesetz könnte rückwirkend in Kraft treten.

Aber auch wenn in den Medien nicht mehr so viel wie noch letzte Woche über die Proteste berichtet wird, auch wenn endlich wieder ein bisschen Alltag eingekehrt ist – zu Ende ist es längst nicht.

In dieser Woche hat der Protest eine neue friedliche Gestalt angenommen. Es begann mit dem Künstler Erdem Gündüz, der am Montagabend stundenlang stumm und regungslos auf dem Taksimplatz gestanden hatte. Seit Dienstag wird er im ganzen Land kopiert, inzwischen treffen sich die Demonstranten vor allem in anderen Parks und stehen dort für mindestens 5 Minuten am Abend still. Die Polizei hat bisher nicht eingegriffen, denn noch gibt es kein Gesetz, das diesen stillen Protest verbietet.

Auch Musikfestivals wie das “Efes One Love Festival” wurden wegen der Proteste (für sie) abgesagt. Dieses Bild ist vom vergangenen Jahr, als ganz plötzlich wegen einem neuen Regierungserlasses kein Alkohol mehr auf dem Festival verkauft werden durfte. Efes ist der größte Bierhersteller der Türkei, gehört zum Coca Cola-Konzern. Vor zwei Wochen wurde ein neues Gesetz verabschiedet, dass den Alkoholverkauf und -werbung sehr stark einschränkt.

Eine Sprache, die die Regierung offenbar am besten versteht, ist die der Wirtschaft. Seit dem Beginn der Proteste ging es an der Börse steil nach unten, der Lira stand seit Jahren nicht mehr so schlecht. Im Großen Basar in Istanbul werden zur Zeit nur 30 % der normalen Geschäfte gemacht.

Es gab mehrere Aufrufe zum Boykott. Dieser gilt u.a. für Einkaufszentren (weil auch im Gezi Park eines gebaut werden soll[te?] und viele Einkaufszentren von Erdoğans Schwiegersohn gebaut werden); die Geschäfte, die während der gewaltsamen Auseinandersetzungen nicht den Protestanten, sondern der Polizei geholfen haben, z.B. die Kaffeeketten Mado und Starbucks, die Fastfoodketten Burger King und McDonald’s (auch wenn die Hilfe bzw. Nichthilfe die Entscheidung einzelner Filialen war); sämtliche Medien, die zensiert über die Proteste berichteten (also der Großteil der türkischen Medien); Firmen, die bestimmten Menschen gehören, z.B. die Aldi-Kopie BIM und die Krankenhauskette Medical Park, die Familie Erdoğan besitzt.

Dass so viele Türken sich an diesen Boykott halten, ist ein deutliches Zeichen, denn normalerweise ist Shopping eines ihrer liebsten Hobbys. Gerade zum Beginn der Ferienzeit sind die Einkaufsstraßen und -zentren normalerweise überlaufen – aber nicht in diesem Jahr. Viele kaufen im Moment nur, was wirklich notwendig ist, also Lebensmittel, möglichst beim Einzelhändler an der Ecke.

Die Regierung aber tut Großes für die Wirtschaft: schon längst sind 100.000 neue Patronen Tränengas und Pfefferspray sowie 60 neue Wasserwerfer bestellt.

© janavar

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3 thoughts on “Der stille Protest geht weiter”

  1. Hallo Jana,
    ich war zwar nie gut in Geschichte, aber wenn ich diesen Bericht so lese erinnert mich das spontan an einige Abschnitte aus der Vergangenheit Deutschlands und anderer Länder. Eigentlich hätte man daraus lernen können. Schade, dass ich sowas immer wieder abspielt: Abhören, Geheimpolizei, Gewalt, Drohungen, Abschiebung, Zensur… und das alles zum Zwecke der Machtdemontration und wegen des Geldes.

    Ich wünsche euch noch weiterhin viel Kraft! Passt auf euch auf.

    Viele Grüße,
    Ellen

    1. Hallo Ellen,

      du hast absolut Recht!
      Die Proteste werden u.a. mit der 68er-Bewegung, der Gründung der Grünen und den Montagsdemonstrationen von 1989 verglichen.
      Leider hat die türkische Regierung aber nichts aus der Geschichte gelernt und ihr sind diese Vergleiche aber egal, obwohl sie selbst dieselben Dinge an anderen Ländern kritisieren, z.B. Syrien und Iran.
      Und noch ein Vergleich: Erdogan selbst vergleicht sich gerne mit dem früheren türkischen Ministerpräsidenten Adnan Menderes, der die Wirtschaft auch voran- und die Religion zurück in die Schulen gebracht hat. Interessant an dem selbst gewählten Vergleich ist, dass Menderes am Ende abgesetzt und gehenkt wurde.

      Viele Grüße
      Jana

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