Television ohne Visionen

“Ich fand das nicht gut. Also dass sie die ganze Zeit mit dem Murat geredet hat. Dabei wusste sie doch, dass ich den Murat süß finde. Also das fand ich echt nicht gut von ihr.”

Nach über einem Jahr Abstinenz besitze ich endlich wieder einen Fernseher mit einem voll funktionierenden Programm. Mein neuer bester Freund ist nicht nur einfach ein normales Fernsehprogramm, nein, ich habe mich nach langen Recherchen für tivibu entschieden. Tivibu ist IPTV, also Internetfernsehen und hier in der Türkei äußerst günstig mit zwanzig Lira pro Monat. Der türkische Techniker, der gestern mit nur zwei einhalb Stunden Verspätung kam und einen neuen Internetrouter sowie einen Receiver installierte, erklärte mir in einem Mix aus Türkisch und Englisch – und nachdem ich meinen Kater ins Bad gesperrt hatte, weil er alle Kartons und Papiere attackierte – die fantastischen Funktionen, die ich in den türkischen Internetbeschreibungen dann doch nicht verstanden hatte:

Zugriff auf eine günstige Onlinevideothek, Zugriff auf eine kostenlose Onlinevideothek, Zugriff auf alle Sendungen der letzten sieben Tage, Zugriff auf Wetter-, Bundesliga-, Süperlig-, Apotheken- und Restaurantlieferdienstinformationen, Pausieren aktueller Sendungen, drei Kinosender mit Sprach- und Untertitelauswahl – und normales Fernsehen ist auch möglich. Für letzteres stehen mir über zweihundert Sender zur Verfügung.

Auf meiner Favoritenliste stehen einige türkische Serien ganz oben, z.B. die über das Leben der osmanischen Sultane oder eine lustige über ein Taxiunternehmen in Istanbul; aber für tivibu als Anbieter entschied ich mich wegen der doppelten Anzahl deutscher Kanäle im Vergleich. Ja, ab sofort habe ich wieder Zugriff auf gutes deutsches Fernsehen, nämlich auf Sat1 und RTL. Voller Freude eilte ich heute nach der Arbeit nach Hause, legte mich aufs Sofa, den Kater auf meinen Bauch und schaltete ein: ahhh, Gerichtssendungen. Die hatte ich schon völlig verdrängt. Großes Thema heute: “Ich bin Türke, habe vier Geschwister, die haben alle Großfamilien und meine Freundin will nicht schwanger werden. Da habe ich ihre Pille ausgetauscht.” Kater und ich schliefen ein.

Als wir neunzig Minuten später aufwachten, hatte sich die Sendung geändert: Mutter schreit Tochter an, wirft deren Freundin aus der Wohnung. Tochter meint, sie sei hässlich (naja, schön war sie auf jeden Fall wirklich nicht), Mutter meint, es komme nur auf innere Werte an. Freundin schleppt Tochter zu eigener Mutter für Permanentmakeup, wobei der Permanentlippenstift versehentlich auf dem Philtrum landet. Tochter und Freundin gingen zum Speeddating, Freundin schnappt sich süßen Murat (ebenfalls Ansichtssache), Tochter bekommt den kleinen Dicken. Tochter ist sehr sehr böse auf Freundin.

An dieser Stelle verspürte ich dann doch einen starken inneren Drang, den Fernseher auszuschalten und ging stattdessen mit dem Kater zum Tierarzt. Mein Bedürfnis tivibu ununterbrochen zu nutzen hat sich minimiert. Ich kann nur hoffen, dass das türkische Programm höhere Qualitätsmaßstäbe ansetzt. Aber was bitte ist denn mit dem deutschen Fernsehen los? War es schon immer so mies, hat es sich im vergangenen Jahr rapide verschlechtert oder fehlt mir nach einem Jahr Abstinenz einfach der Bezug? Ehrlich gesagt habe ich im Moment wenig Lust dies alles genauer empirisch zu untersuchen.

Stattdessen genieße ich lieber weiterhin einen aktiven Istanbuler Herbst, den ich mittlerweile nur noch mit großen Mengen Kaffee durchhalte. Aber ich kann doch weder Schlagerpartys auslassen noch Book swaps, wo man neue Leute kennen lernt, noch Partys mitten in der Woche, auf denen man nur gaaanz kurz vorbeischauen wollte, noch spontane Ausflüge ins Four Seasons Hotel, wo man unter Heizpilzen direkt am Bosporus sitzen kann, noch wohlgeplante Trips in meinen Lieblingsschuhladen, in dem erst seit einer Woche die neue Herbst-Winter-Kollektion steht, noch … Oder den Trip nach Athen nächste Woche mit Schülern, der erst so richtig interessant geworden ist, seitdem der Generalstreik angekündigt wurde … Ins Theater und Kino wollte ich auch mal wieder …

Und natürlich braucht der Kater Aufmerksamkeit, die er mit verschiedenen Tricks einfordert – mit den Fernbedienungen spielen, die Batterien herausholen und unterm Teppich verstecken, sich auf die Computertastatur legen, jeden männlichen Besuch hinterhältig anspringen und in die Füße beißen, mich beim wilden Spielen, eher aber während meiner Mittagsschläfchen auch mal in die Hand kratzen. Wenigstens der Tierarzt meinte heute, nachdem er ihm die Krallen gekürzt hatte, eigentlich sei mein Monsterchen ziemlich normal, nur eben temperamentvoll. In den nächsten zwei einhalb Jahren werde er bei seiner derzeitigen Wachstumsrate aber offenbar zu einem riesigen Tier aka einem Panther (nein, kein kleiner Puma) heranwachsen. Vielleicht schalte ich ihm ab sofort einfach den Wildlife-Kanal an, damit er seine Artgenossen beobachten kann? Dann lohnt sich tivibu am Ende doch noch, denn beim Fernsehen schläft mein Monsterchen immer ganz schnell ein.

© janavar

(erstmals veröffentlicht am 13. Oktober 2011)

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