#occupyturkey – Neues aus Istanbul

Seit Freitag verbreiten sich drei Verse aus Brechts Gedicht “An die Nachgeborenen”:

Was sind das für Zeiten, wo 
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist. 
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt! 

Einige Nachrichten, die mich seit Freitag erreicht haben:

“Ich war da, weil ich da sein musste. Wenn man diese Gasbomben kriegt, kann man nicht atmen, aber das ist Aufwachen in der Türkei.” Sonnabend vom Lieblingsmenschen

“Hier bei mir ist das Internet jetzt tot.” Sonnabend, 15:21 Uhr, von einer Freundin, die in einer Seitenstraße zur Istiklal Caddesi wohnt

“There are rumors that at some point today the internet (which is ultimately controlled by the government) will be shut off.” Sonnabend, gegen 15 Uhr von einer Freundin auf Facebook. Kurze Zeit danach: “Am accessing FB through a VPN server now as it looks like the block has started.”

“There’s no internet or mobile connection to Besiktas. Nobody knows what is going on over there.” Heute Nacht eine Freundin auf Facebook

Was seit gestern passiert ist:

Die türkische Regierung hatte am späten Nachmittag/frühen Abend alle sozialen Netzwerke für einige Zeit gesperrt.

Erdoğan hat eine Rede gehalten, in der er deutlich gemacht hat, dass er sich von keinem Demonstraten aufhalten lasse. Diese seien nur die Extremisten. Er gab  zu, dass die Polizei eventuell zu hart eingegriffen habe.

Die Regierung hat die Polizei  vom Taksimplatz abgezogen, jedoch nur um sie weiter nach Beşiktaş zu schicken, wo es vor allem heute Nacht zu schweren Auseinandersetzungen und einigen Bränden kam.

Die Tränengasvorräte der Regierung gehen zur Neige. Inzwischen wird orangenes Gas eingesetzt, von dem sich alle übergeben müssen.

In Ankara werden neben dem Gas und den Wasserwerfern auch Panzer eingesetzt.

In vielen türkischen Regionen demonstrieren die Menschen und unterstützen die Istanbuler. Da die Regierung die meisten Polizisten dort abgezogen und nach Istanbul geflogen hat, haben sie dort Probleme, die Polizei zu organisieren.

In Antakya rollt offenbar das Militär zur Unterstützung der Polizei an.

Die türkischen Medien ignorieren das Geschehen weitesgehend.

Auf den Straßen und im Internet fordert die Protestbewegung Erdoğan zum Rücktritt auf.

Es besteht die Angst vor einem gesamten Internet-Blackout.

Im Moment scheint es vergleichsweise ruhig zu sein in Istanbul, aber heute Nachmittag und Nacht wird der Protest fortgesetzt.

Wir fliegen heute Nachmittag zurück und ich bin gespannt. Laut meinem Freund konzentriert sich der Protest nicht nur auf das europäische Zentrum um Taksim, sondern auch in unserem Stadtteil und vielen anderen gehen die Menschen auf die Straße.

Ich bin ehrlich gesagt, äußerst enttäuscht von vielen deutschen Medien. Beispielsweise in den heute-Nachrichten wurde von den türkischen Protesten in zwanzig Sekunden berichtet, ohne wirklich etwas zu sagen/zeigen. So kommt es, dass viele, u.a. meine Eltern, glauben, dass es wirklich nur um ein paar Bäume geht, die ein paar Extremisten verteidigen zu versuchen. Zeitungen berichten viel häufiger und besser, z.B. Die Welt und spiegelonline. Die BBC zeigt sogar lange Berichte und unterscheidet deutlich die genannten Zahlen von Verletzten und Gefangenen von 1) der türkischen Regierung und 2) Amnesty International.

Immerhin seit gestern Abend gibt es eine Reisewarnung des Auswärtigen Amtes, dass man sich in Istanbul von öffentlichen Plätzen und besonders von den Demonstrationen fernhalten solle.

Wenn wir nachher zurückfliegen, hoffe ich, dass wir ohne Probleme nach Hause kommen und die Regierung nicht das Internet oder überhaupt Seiten (also mehr als sowieso schon) sperrt.

Ich bin auch gespannt, wie sich die nächsten Tage gestalten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass alle morgen ganz normal zur Schule kommen. Eher, dass viele Eltern ihre Kinder zu Hause behalten, schon aus Sicherheitsgründen (nicht wegen der Schule, aber wegen dem Schulweg).

Es gibt übrigens ein weiteres Gedicht von Brecht, das ich sehr passend finde:

Die Lösung

Nach dem Aufstand des 17. Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands
In der Stalinallee Flugblätter verteilen
Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch verdoppelte Arbeit
zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?

© janavar

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3 thoughts on “#occupyturkey – Neues aus Istanbul”

  1. Danke für den Einblick. Das ist grad so eine spannende Zeit mit so vielen Umbrüchen… ich bin gespannt, was die Menschen draus machen werden und wie sie die Energie nutzen werden.

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