10. November in Ankara: Atatürks Todestag

Einer der größten Unterschiede zwischen der türkischen und der deutschen Kultur wird deutlich, wenn man so wie ich am 10. November in Ankara ist. Am 10. November feiert das ganze Land Atatürks Todestag.

10. November in Ankara: Atatürks Todestag

Für die Türken ist Atatürk der Gründer der modernen Türkei; der Republiksgründer, der nur als legitimierter Didaktor dies erreichen konnte; der Mann, der die Nation säkularisiert und gen Westen geführt hat; ein Vorbild und Held. Sein Bild hängt in jedem Raum öffentlicher Gebäude, seine Büste steht in jeder Schule und wird zu besonderen Fahnenappellen auf den Schulhof getragen, es gibt in fast jedem Park und auf unzähligen anderen Plätzen sein Denkmal.

10. November in Ankara: Atatürks Todestag

An seinem Todestag werden riesige Stoffbahnen mit Bildern von ihm aufgehängt, Fahnen mit ihm darauf geschwenkt. Viele Gruppen reisen nach Ankara, um ihm in seinem riesigen Mausoleum mitten in der Stadt, Anıtkabir genannt, die Ehre zu erweisen. Das riesige Grabmal ist von fast jedem Punkt in Ankara zu sehen. Gleichzeitig besuchen sie das dazugehörige Museum, die Gebäude des ersten und zweiten türkischen Parlaments. Überall stehen Straßenhändler, die Fahnen, rote Bänder für den Kopf, rote und weiße Rosen und Nelken sowie Anstecknadeln mit der Flagge oder Atatürks Profil unter das Volk bringen.

10. November in Ankara: Atatürks Todestag

Das Anıtkabir

Morgens kurz nach neun Uhr heulen im ganzen Land die Sirenen eine Minute lang und es findet eine Schweigeminute statt. Genau zu der Zeit, als Atatürk gestorben ist, übrigens im Istanbuler Dolmabahce Palast und an Leberzirrhose.

10. November in Ankara: Atatürks Todestag

In Ankara versammeln sich alle am Anıtkabir, wo sie, ohne zu murren, fast zwei Stunden warten, um einen sehr kurzen Blick auf Atatürks Sarkophag werfen zu dürfen. Obwohl er dort gar nicht drinnen liegt. Sein richtiges Grab ist in einer anderen Kammer im Anıtkabir. Die Sicherheitsmänner am offiziellen Sarkophag scheuchen die Besucher sofort weiter, es bleibt kaum Zeit für ein Foto. Ununterbrochen schallen Originalaufnahmen von Atatürks Reden über den Platz, Soldaten und Offiziere sind als Sicherheitsleute eingesetzt. Kinder sitzen auf den Schultern ihrer Väter und winken mit Fahnen oder Blumen.

10. November in Ankara: Atatürks Todestag

Ich habe diesen Personenkult mit gemischten Gefühlen beobachtet. Keine Frage, es ist interessant, wie dieser Mann, der seit 1938 tot ist, immer noch so verehrt wird. Er hat für das türkische Volk große Leistungen vollbracht, indem er sie nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg aus den Zwängen der Alliierten befreit hat, die längst geplant hatten, das Osmanische Reich zu zerschlagen und unter sich aufzuteilen. Er hat das einzige Land mit dem Islam als Hauptreligion geschaffen, in dem Staat und Religion getrennt sind und nicht die Scharia die Rechtsgrundlage bildet.

10. November in Ankara: Atatürks Todestag

Atatürks Sarkophag

Aber er ist nun einmal kein Heiliger. Er hat Fehler begangen, über die bis heute kaum geredet wird. Um ein Nationalgefühl, eine Einheit zu schaffen legte er beispielsweise fest, dass jeder Mensch im Land Türke sei, es gebe keine Minoritäten. Die Idee mag ursprünglich gut und vor allem typisch für die Zeit der 1920er gewesen sein, führt aber bis heute dazu, dass über Vertreibungen und Tötungen einiger Bevölkerungsteile nicht geredet wird. Außerdem werden Atatürk und seine Entscheidungen bis heute nicht in Frage gestellt oder auch einfach nur aus verschiedenen Blickwinkeln und aus heutiger Sicht reflektiert. Das ist etwas, was ich aus meiner deutschen Sicht nicht nachvollziehen kann.

10. November in Ankara: Atatürks Todestag

In der westlichen Geschichtswissenschaft geht es heute um die Multiperspektivität.

Im Museum des Anıtkabir gibt es eine Malerei, wie Griechen während des Türkischen Befreiungskrieges in türkischen Dörfern Massaker anrichteten, mit der Notiz, dass auch die orthodoxen Priester daran eine Mitschuld tragen. Es gibt ein Foto mit Leichen, die ein Massaker der Armenier an Türken zeigt. Es gibt in dem Museum keinerlei Hinweise auf derartige Taten der Türken an Minoritäten. In dem Museum dürfen übrigens keine Fotos gemacht werden.

10. November in Ankara: Atatürks Todestag

Ich denke, was mich und andere Deutsche am meisten an den Feierlichkeiten des 10. November stört, ist, dass es uns zu sehr an unsere Nazi-Vergangenheit erinnert. Zum Teil auch an unsere DDR-Vergangenheit. Personenkult in Deutschland ist out. Wir haben das auf eine schmerzhafte, aber offenbar wirkungsvolle Weise gelernt – bis auf einige Ausnahmen leider. Heute hinterfragen wir das Tun unserer Politiker und lassen uns nicht blind führen. Wir stilisieren niemanden und machen ihn schon gar nicht zu einem Nationalheiligen. Vielleicht kritisieren wir manchmal auch zu oft, aber insgesamt finde ich es sehr gut, dass wir in unserer deutschen Kultur jeden für sein eigenes Tun und Glück verantwortlich machen und uns nicht hinter einer Person oder einem Mythos verstecken.
Ich bin mir aber auch bewusst, dass die türkische Kultur ihren Helden Atatürk braucht, um ihre Identität zu bewahren und sich in dieser Region der Welt von den anderen starken und/oder problematischen islamischen Staaten abzugrenzen. Und ich bin froh, wenn auch vor allem aus egoistischen Gründen, dass sie einen westlich orientierten Mann verehren, der außerdem gut aussah, charismatisch war und eine Nation radikal umgekrempelt und dennoch geeint hat.

10. November in Ankara: Atatürks Todestag

P.s. Ein genauer Bericht zur Stadt Ankara selbst folgt in den nächsten Tagen. Im Moment sitze ich noch im Bus, der mich zurück nach Istanbul bringt.

© janavar

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3 thoughts on “10. November in Ankara: Atatürks Todestag”

  1. Liebe Jana, ich habe den Artikel �ber Atat�rks Todestag gelesen. Den hast du ja sehr interessant in Kurzform geschrieben. Bin schon auf den n�schsten Artikel gespannt.
    Bist du schon wieder in Istanbul? Viele liebe Gr��e von uns 2.

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  2. Ja das Kapitel Armenien ist eine Sache für sich in der Türkei. Wie leider alle “Behandlungen” von Minderheiten. Schade ist, dass darüber in der Türkei, nicht offen geredet werden kann.

    1. Sie reden manchmal darüber – und sind fest davon überzeugt, dass sie Minoritäten nie geschadet haben, sondern diese in der westlichen Welt irgendwelche Lügenmärchen verbreitet haben. Hier fehlt leider eine Selbstbetrachtung mit etwas Abstand, aber ich glaube, das ist auch überhaupt nicht gewollt.

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